Die Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre brachte das fragile Gebäude der Weimarer Republik zum Einsturz. Sie wütete wie eine Pandemie, doch war sie keine Naturkatastrophe. Sie entsprang der Irrationalität der Klassengesellschaft, ihrem Waren- und Geldfetischismus wie der fehlenden gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktion. In Deutschland spülte sie die wichtigste Bewegung, die der Republik den Garaus machen wollte, um zum zweiten Griff nach der Weltmacht anzusetzen, an die Oberfläche.
Die republiktreuen Kräfte, auch die Sozialdemokraten, verschlossen die Augen vor der Schrift an der Wand, vor der Losung „Deutschland erwache, Juda verrecke“. Hitler und seine Nazis würden kommen und wieder gehen. Die Konservativen und ihre Stützen, die Großindustrie und das Junkertum, sahen mit einigem Unbehagen auf den plebejischen Schmutz, der den wachsenden Massenanhang der Nationalsozialisten, wie sie sich nannten, ausmachte. Sie konnten aber kaum ihre Befriedigung über das Auftauchen einer Bewegung verbergen, die versprach, alle Organisationen der Arbeiterbewegung zu zerschlagen und die Ergebnisse des Weltkrieges zu revidieren. Die Kommunisten sahen in den Anhängern der SPD, den sogenannten „Sozialfaschisten“, den Feind, der zuerst zu schlagen sei, bevor man mit den Nazis aufräumen könne. Es sind diese Kardinalfragen und ihre weltgeschichtlichen Folgen, die den Inhalt der Aufsatzsammlung des Historikers Manfred Weißbecker bilden. „Noch einmal über die Bücher gehen“, mahnt er.
Der Jenaer Professor vom Jahrgang 1935 hat die Geschichtsschreibung in der DDR zur Weimarer Republik und zum Nazireich in starkem Maße mitgeprägt. Durchmustert man diese dreißig, teils vor, teils nach der Weltenwende 1989 geschriebenen Arbeiten, fällt eine so nicht häufige Kontinuität des Denkens und Schreibens ins Auge. Manfred Weißbecker wandte und wendet sich Problemen zu, die durch die Überschriften der Kapitelkomplexe angedeutet seien: Weimarer Republik – Demokratie und Pforte zur Diktatur, Die Partei des deutschen Faschismus; „Führer“ und Anhängerscharen, Das „braune Thüringen“, Faschismuskritik – gestern und heute.
Die Vielfalt an dargebotenen Tatsachen und Ideen sind in der kurzen Besprechung eines Buches, das zu lesen der Rezensent nachdrücklich empfiehlt, nur pars pro toto aufzuzeigen. Gemeinsam mit seinem kongenialen Berliner Schaffenspartner Kurt Pätzold (1930–2016) schrieb Weißbecker eine im deutschen Sprachraum noch immer unikate Geschichte der NSDAP, die 1981 erstmals erschien und in wesentlich erweiterter Form seit 1998 mehrere Neuauflagen erlebte. In dieser Arbeit durchleuchteten beide, jedem deterministischen Verständnis von Geschichte abhold, das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen Führern und Geführten und zeigten, „dass die autoritär-faschistische Herrschaftsform mit ihrer extremen Zentralisierung der Macht, mit der terroristischen Disziplinierung der Massen, mit dem ‚Führer-Kult’ und der Volksgemeinschaftsdemagogie einen anderen, massenwirksameren und zugleich autoritäreren Führertyp verlangt als die bürgerlich-parlamentarische Herrschaftsform“, einen Führertypus, der die imperialistische Politik nach innen wie nach außen durchexerziert und doch weit mehr ist als ein, wie nicht nur manche Marxisten glaubten, bloßes Instrument des Großkapitals.
Intellektuell derart ausgerüstet, schrieben Pätzold und Weißbecker Biographien über Hitler und über Rudolf Hess, deren Vorarbeiten in die DDR zurückreichen. In seinem hier abgedruckten Vorwort zu Kurt Pätzolds posthum erschienenem Buch „Gefolgschaft hinterm Hakenkreuz“ betont Weißbecker: „Der Nazi-Terror führte zu Angst und Disziplinierung, zu Anpassungs- und Unterwerfungsdruck, worauf insbesondere die Arbeiterparteien nicht angemessen vorbereitet seien. Aber: Die Mehrheit der Deutschen sah sich selbst nicht von Verfolgung, KZ-Haft oder Ermordung bedroht. Im Gegenteil: Weithin wurde der Anwendung strikter Gewalt zugestimmt. So ungeheuerlich dies auch erscheinen mag, es existierte auch da eine gedankliche Übereinstimmung zwischen der Führung und großen Teilen der Massen.“ Es war nicht leicht, zu solch bitterer Erkenntnis vorzustoßen, auch dann nicht, wenn man wie Weißbecker schon in der DDR die hierzu wegweisenden Schriften des deutschen Exils von Erich Fromm bis Wilhelm Reich unaufgeregt zur Kenntnis genommen und sie nicht als bloße bürgerliche Konterbande verdammt hatte.
Eine Fundgrube sind hierzu Überlegungen Johannes R. Bechers, die das Buch wohl erstmals konzentriert vorstellt. Leider geht es nicht auf drei zum Thema „Führer und Geführte“ unerlässliche Exil-Arbeiten ein: auf Leo Trotzkis „Porträt des Nationalsozialismus“, Arthur Rosenbergs „Der Faschismus als Massenbewegung“ und Serge Chakotins „The Rape of the Masses“. Es ist klar, dass Manfred Weißbeckers Faschismus-Begriff als analytische Kategorie nichts gemein hat mit der (nicht nur in der DDR häufigen) Agitationsfigur. Die Zusammenhänge zwischen Faschismus und Kapitalismus aber werden selten so eindringlich-unideologisch vermittelt wie hier. Dabei fehlt nicht der Verweis auf Karsten Heinz Schönbachs neue Arbeit zum Thema. Einen besonderen Tribut als Mensch und Wissenschaftler zollt Weißbecker seinem Marburger Freund und Professoren-Kollegen Reinhard Kühnl, mit dem er über alle Hindernisse hinweg schon im geteilten Deutschland zu kooperieren verstand.
Manfred Weißbeckers unmittelbare Reaktion auf die Beseitigung der DDR durch die aufbegehrenden Volksmassen waren seine „Gedanken zum Antifaschismus-Verlust“. Der Antifaschismus in der DDR war janusköpfig: Er war humanistischer Auftrag und zugleich die Bemäntelung autoritärer, freiheitsfeindlicher Herrschaftspraxis – am Ende nur noch eine „Verschiebung“, so Weißbecker, hin zur Letzteren. Dies erleichterte dann jenen das Geschäft, die mit dem legitimatorischen auch den legitimen Antifaschismus beseitigen wollten. Sie waren auch unter den „Abwicklern“ der Ost-Hochschulen zu finden. Manfred Weißbecker verlor 1992 seine Arbeit an der Universität. Dies hielt ihn vom Weiterarbeiten keineswegs ab.
Warum konnte ein Psychopath aus der Wiener Unterwelt ein Mordregime errichten, dem Millionen mit Hingabe dienten? Was trieb Hitlers Helfer wie Fritz Sauckel an, dem eine Studie gewidmet ist? Wie war die mentale Ausrüstung der Mörder beschaffen? Wer waren die Wegbereiter, wer die Nutznießer des Faschismus? Manfred Weißbeckers Arbeiten suchen und geben Antworten, ohne offene Fragen auszusparen.
„Noch einmal über die Bücher gehen“ – der Titel scheint vom Thema wegzuführen. Doch er zielt auf eine bedauernde Bemerkung des Konstanzer Philosophen Jürgen Mittelstraß ab. Dieser meinte im Rückblick, zu viele Ostdeutsche seien von den Lehranstalten nach der „Wende“ entfernt worden, und man solle noch einmal über die Bücher einiger damals Ausgeschlossener gehen. Enthielten sie nicht Wertvolles, um dessentwillen ihre Autoren, zumal die jüngeren, begründbar in die Universitäten wieder aufzunehmen seien? Dies geschah bekanntlich nicht. Dennoch lohnt ein Studium ihrer Bücher wie die der älteren DDR-Forscher – gerade auch jener Manfred Weißbeckers. Der Antifaschismus, wie er ihn vermittelt, ist heute nötiger denn je.
Manfred Weißbecker: Noch einmal über die Bücher gehen. Texte aus einem geteilten Historikerleben, Papyrossa, Bonn 2020, 468 Seiten, 32,00 Euro.
Schlagwörter: Faschismus, Manfred Weißbecker, Mario Keßler