„Auch die Grenadiere wollen nicht mehr; wie ein Rasender jagt der König daher und hebt den Stock und ruft unter Beben: ‚Racker, wollt Ihr denn ewig leben?‘“
Theodor Fontane
In Zeiten wie diesen mit übersteigertem Lese-, Sicht- und Hörangebot verstärkt sich die Neigung von Autoren, zur Bekräftigung ihrer Anliegen Autoritäten in Dienst zu nehmen. Gegenwärtig bietet sich dieser Text von Einstein an, kaum bekannt: „Wenn aber der Gang des Alltäglichen, Erwarteten unterbrochen wird, bemerken wir, daß wir sind wie Schiffbrüchige, die im offenen Meer auf einer elenden Planke balancieren und vergessen haben, woher sie kommen, und nicht wissen, wohin sie treiben.“ Das schrieb Einstein in einem Brief anlässlich des plötzlichen Todes eines Kindes an das befreundete Ehepaar Held. Mit Einstein als Quelle wird hingegen zunehmend dieser Satz gern genutzt: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben“. Gute Empfehlung, auch wenn wohl nicht von Einstein.
Geht es nach Überwindung der Pandemie – was durchaus auch das lang andauernde, dann aber beherrschbare Leben mit diesem Virus sein kann – zurück in die „Normalität“, oder wird alles ganz anders infolge einer weltweiten Betroffenheit? Woraus sich die Frage ergibt, was denn Normalität ist, wie sie modifiziert oder grundlegend verändert werden muss, auch wenn „weiter so“ funktionieren soll. Und gegenteilig: Was soll möglichst nachhaltig durch Abkehr vom Bisherigen, durch dessen „Überwindung“, erreicht werden, und wie?
Zwecks Erkenntnis dazu erfolgen gern Nachfragen bei gegenwärtigen Autoritäten. So bei Francis Fukuyama, dessen Fehlurteil zum „Ende der Geschichte“ kaum noch Verhaltensspuren hinterlassen hat. Jetzt ist er sich laut Handelsblatt erneut sicher: „Diese Pandemie wird unsere Sicht auf die Dinge und die Art, wie wir über sie denken, grundlegend verändern.“. Dazu gehört auch dieser Befund: „Der Neoliberalismus war schon tot, bevor die Krise ausbrach.“
Hier vermischen sich Erkenntnisse hinsichtlich einer anstehenden globalen „allgemeinen Krise“ der gegenwärtigen Weltordnung, unabhängig von der Pandemie, mit deren direkten Auswirkungen, auf die man „alles“ abladen kann. Vor allem grundlegende Mängel und aktuelle Versäumnisse, aber auch Erprobungen, was den Gesellschaften zugemutet werden kann; dies alles dank der Heimsuchung. Präsident Macron und andere erklärten: „Wir befinden uns im Krieg“ und verschafften sich so die Möglichkeit, den Ausnahmezustand in der Praxis zu proben.
Bei der innerdeutschen Diskussion um die Virus-Folgen reicht das „Austesten“ bis zu Erwägungen, bei Notlagen im Gesundheitssystem vermittels „medizinischer Kriterien“ zur Entsorgung derer Beihilfe zu leisten, die sowieso bald sterben würden. Als Handreichung dazu diente der Diskurs des Parlamentspräsidenten Dr. Schäuble zum Grundgesetz, wonach nicht das Leben der Staatsbürger unantastbar sei, sondern „dessen Würde“. Das könnte bedeuten: Fremdbestimmung über die Beendigung des Lebens per Selektion aus medizinischen Gründen „ja“, aber bitte den Tod danach möglichst mit Staatsakt würdigen. Solche Gedanken wären ohne die Corona-Krise wohl nicht so verständnisvoll „durchgegangen“, zumal, wenn man sich der langjährigen Unruhe erinnert, die die Straffreisetzung medizinischer Hilfe beim Suizid ausgelöst hatte.
Für den Zukunftsforscher Matthias Horx steckt ein tiefer Sinn hinter der Heimsuchung wie er in der Future-Mind-Kolumne schreibt: „Vielleicht war der (!) Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: ‚Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. […] Der große Technik-Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?’“… Zur Beteiligung an der Aufklärung hatte sein „Zukunftsinstitut“ eine originelle Verkaufsidee. Demnächst würde ein Werk „Die Welt nach Corona – Business, Mächte, Lebenswelten“ erscheinen; gegen 125 Euro Vorkasse hätte man dann Anspruch darauf. Da gewinnt „Zukunft“ eine ganz eigene Bedeutung.
Solange wollte Handelsblatt wohl nicht warten und bemühte die höchst erreichbare Instanz, also Kardinal Reinhard Marx: „Wir müssen sehr darauf achten, dass die Gesellschaft beieinander bleibt. Nicht nur in der Isolationsphase, sondern vor allem danach. Dann erst zeigt sich, ob es Krisengewinner und -verlierer gibt – und ob das vernünftig aufgefangen wird und das Gefühl der gerechten Behandlung von Gruppen und Personen nicht verloren geht. […] Die sozialen, politischen und ökologischen Folgen eines ungebremsten Kapitalismus kommen jetzt verstärkt auf die Tagesordnung.“
Wie der Zufall so will, hatte „Autor und Publizist“ Sigmar Gabriel just in der ersten Etappe der Pandemie Premiere mit seinem jüngsten Buch: „Mehr Mut! Aufbruch in ein neues Jahrzehnt“, erschienen im Herder Verlag. Ungünstig für Autor und Verlag, aber passend zu unserem Anliegen schon die Vorankündigung: „Wie wir als Gesellschaft das Versprechen auf eine bessere Zukunft wiederfinden“.
Nehmen wir diesen Text – unter Verzicht auf des Autors Bestreben, den „Stallgeruch“ der Sozialdemokratie abzustreifen und sich als Wahlkandidat für alle demokratischen Parteien unter Einschluss der „Linken“ zu präsentieren – als Programm eines gebremsten Kapitalismus. Gerade bei Beachtung der neuen Spitzenposition des Autors im Aufsichtsrat der Deutschen Bank – als Favorit des Großaktionärs Katar mit Aussicht auf den Vorsitz – wirken seine Beschreibungen der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland, in der Europäischen Union und der Globalisierung als Blaupause eines geläuterten Kapitalismus, programmatisch vergleichbar einer Rückkehr zu den Ursprüngen der sozialen Marktwirtschaft unter Bedingungen der Gegenwart.
So sympathisch auch Stimmen klingen mögen, die von grundlegenden Auswirkungen der Pandemie auf „Alles“ überzeugt sind oder dies zumindest erhoffen: Manches wird „angepasst“ werden, aber eben an die bisherigen Normen in der Weltgesellschaft. Alles, was derzeit staatlich verordnet, von der „Wirtschaft gefordert und praktisch vorbereitet wird, ist darauf ausgerichtet, nicht auf gesellschaftlichen Wandel. Und das Gabriel-Konzept aus dem „inneren Zirkel“ bietet deshalb Vorschläge zur Regulierung des – von keinem der hier Zitierten infrage gestellten – Kapitalismus; ohne oder mit Corona-Virus. Eben kommt die Nachricht, dass Präsident Trump erwäge, von China gehaltene Schulden der USA nicht zu begleichen. So geht Business as usual auch derzeit weiter – Machtdemonstration mit offenem Ausgang.
Ralf Nachtmann hat bereits am 30. März im Forum des Blättchens eine Vorab-Antwort zu irgendwie erwarteten System-Veränderungen mit diesem Text von Kurt Demmler deponiert: „Der neue Mensch, der sieht aus, wie er war; außen und unterm Haar – wie er war.“
Sigmar Gabriel: Mehr Mut! Aufbruch in ein neues Jahrzehnt, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2020, 336 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: Corona-Krise, Herbert Bertsch, Sigmar Gabriel