23. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2020

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp; diesmal – weil Corona-Zeit – in heimischen Regalen, aber es gibt ja den Versandhandel (oder Osterhasen). Diesmal also: Katharina Thalbach mit Shakespeare-Monstern, ein Dutzend Künstler-Paare sowie Will Quadflieg mit Frau Klöterjahn, Herrn Spinell, Thomas Mann und Richard Wagner …

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Shakespeare verarbeitet die Welt. Was es dort gibt, kommt in seinen Stücken vor, in der Fülle seiner Figuren, in denen folglich alles vorkommt, was Menschen ausmacht – im schönen wie im schrecklichen. Die Vielfalt der Rollen und Themen, die in diesen Figuren stecken, liefert fettes Futter für Schauspieler. Nicht wenige haben sich dabei überfuttert…

Auch Katharina Thalbach gehört zu jenen, die nicht genug Shakespeare kriegen können; freilich ohne je überfuttert zu wirken. Wir werden nicht müde, sie zu bewundern.

So auch jetzt: Wagt sie es doch, alle Rollen von fünf Shakespeare-Stücken ungekürzt in vierzehn Stunden zu lesen: „Was ihr wollt“, „Wie es euch gefällt“, „Romeo und Julia“, „Richard III.“ und „Macbeth“. Mit dieser sexy aufgerauten, zart grummelnden, aber auch scharf schneidenden Stimme, mit dieser virtuosen Sprechkunst werden aus den fünf Sprachkunstwerken für die Bühne fünf packende Lesedramen fürs Hörbuch zu Hause. – Die wortgewaltige Übersetzung der teils gegensätzlichen Fünf stammt von Thomas Brasch, Thalbachs einstigem Lebensabschnittsgefährten, dem sie bis zu seinem frühen Tod auf ihre innige Art die Treue bewahrte.

Mit Williams beiden Komödien allerdings ist es so eine Sache. Die klassischen Schlegel-Tieck-Nachdichtungen zünden nicht wirklich, beflügeln jedoch besonders Braschs Fantasie. Die macht aus einem „Stille, Schelm!“ ein „Halts Maul, du Hund!“ oder aus „Gehab dich wohl, du schöne Grausamkeit“ ein „Mach’s gut, mein Monster“. Und ein „bestallter Narr“ wird zum „festangestellten Blödel“. In diesem Ton, den Thalbach genüsslich ausspielt …

Der dann wieder fein konterkariert wird wie beispielsweise mit dieser Shakespeare-Brasch-Sentenz, die das Zeug zum geflügelten Wort hat: „Kluge Blödelei ist niemals öde / doch öder Tiefsinn immer blöde.“ Begnadete Reimerei.

Übrigens, der Thalbach einmalig große, schier umwerfende Stärke ist ja eben das pralle, aber auch feinsinnig-ironische Komödiantentum, das ihr zumindest ein bisschen im Wege steht beim Umgang mit den schweren Jungs, den bösen Buben vom Dienst (Lieblingssport Mord) aus den Tragödien. Aber es gibt ja noch die vielen Nebenrollen. Bei „Richard“ etwa die beiden Mörder, gedungen vom blutigen König, deren zaghaft aufflackernde Skrupel Brasch ins Plebejisch-Berlinerische übersetzt, was sehr zur Thalbach passt: „Nee, wart mal, gleich kippt mir mein Humanismus wieder weg, hoff ich.“

Zwei mp3-CDs im Verlag Tacheles/Roof Music, Bochum. Im Versandhandel ab 9,99 Euro.

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„Man wühlt nicht in Liebesbeziehungen“, wehrte Bernhard Minetti ab, als man ihn ausfragen wollte nach seinen Beziehungen zu Thomas Bernhard. Peter Zadek bellte bei der Frage nach Ulrich Wildgruber zurück: „Es gibt keine Antwort. Auch für Romeo und Julia nicht und den Grund ihrer Liebe.“

So ist es. Diese kompliziert erotisch-geistige, womöglich noch sexuelle, diese himmlisch-höllische Sache aus Widerspruch und Übereinstimmung zwischen zwei Menschen lässt sich kaum aufklären, höchstens erahnen. Dennoch ging die Journalistin und Dokumentarfilmerin Christina Haberlik vor gut einem Jahrzehnt, sie war damals Chefin des Münchner Theatermuseums, dieser so geheimnisumwitterten Sache nach, was denn wohl Paare im Theater im Innersten zusammenhält. Etwa Seelenklang, identische Intelligenz, Sex; die Spannung zwischen Hoch- und Demut, Brauchen und Liefern, Herrschen und Dienen…? Sind doch gerade im Bühnenbetrieb, mehr als in jedem anderen künstlerischen Metier, offene oder geschlossene Zweierbeziehungen wundersame Keimzellen für Hochleistungen. Darüber ist dank Haberliks akribischer Recherchen und mutigen Befragungen spannend zu lesen.

Es sind zwölf solcher geistreichen Zweier-Konstellationen, die Haberlik durch Beschreibung, vornehmlich aber durch bisher unveröffentlichte, erstaunlich offenherzige und umfangreiche Gespräche beleuchtet (zugleich gibt es einen nostalgischen Blick zurück in die Theatergeschichte).

Anders gesagt, es sind 24 Protagonisten von Theater und Film, darunter fünf Frauen – die satte Mehrheit von Kreativen ist in diesem Fall wie immer: männlich.

Eine der Frauen, Marieluise Fleißer, schrieb erregt über ihren Herrn und Meister Bertolt Brecht: „Von diesem Dichter komme ich nicht los, der hat was für mich, der gräbt mich um, an dem komme ich im Leben nicht vorbei.“

Da fanden sich Dichterin und Dichter; beim Ehepaar Domröse-Thate Schauspielerin und Schauspieler. Ansonsten stehen die Ausgewählten – etwa Peymann und Beil, Trissenaar und Neuenfels, Viebrock und Marthaler – selten in gleichen, dafür in oft ganz unterschiedlichen beruflichen Stellungen zueinander: etwa Regisseur und Dramatiker, Dramaturg, Schauspieler, Szenarist.

„Plötzlich wurde mir von einer Sekunde zur anderen, wie vom Blitz getroffen, klar, dass die Schygulla der Star meiner Filme werden würde, ein Eckpfeiler, vielleicht sogar so etwas wie ein Motor“, sagt Rainer Werner Fassbinder. Und Hanna: „Ich habe von Anfang an gespürt, dass er mein Regisseur war. Ohne dass wir allzu viel gemein hatten.“

Christina Haberlik: Theaterpaare. Henschel Verlag, Berlin 2004, 168 Seiten, im Versandhandel ab 3,00 Euro.

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Als nach einigen einstimmenden Nocturnes von Chopin die lungenkranke Frau Gabriele Klöterjahn ihrem Leidensgefährten Herrn Detlev Spinell auf dem Klavier im Salon des Sanatoriums, das uns (ein paar Bücher später) im Roman „Zauberberg“ wiederbegegnen wird, die letalen Ekstasen der Liebe von Tristan und Isolde aus Richard Wagners gleichnamiger Oper zu Gehör bringt, da verlieren die beiden zartbesaiteten Kranken – Herr Detlev und Frau Gabriele – ihre ohnehin schwachen Nerven. Und der Schauspieler Will Quadflieg verlässt während dieser literarisch-musikalischen Session seinen ansonsten meist nüchtern dokumentarischen, beherrscht moderaten, feinen, scheinbar über allen Dingen stehenden Erzählton. Und übergießt die literarisch-musikalische Session mit Kaskaden schäumender Ironie, die das Grotesk-Komische der einsamen Zweisamkeit aufdringlich demonstriert, jedoch das Schmerzliche, Tragische dieser so innigen, nur leider platonischen Begegnung verstellt.

Freilich, die Tristan-und-Isolde-Szene am Klimperkasten ist ein Höhepunkt von Thomas Manns Novelle „Tristan“ von 1901, die eine wahrlich außerordentliche Begegnung zweier Königskinder unter ungewöhnlichen Umständen schildert; eingeschlossen das unversöhnliche Aufeinanderprallen diametraler Lebensgefühle und Temperamente sowie andersartige Gegensätzlichkeiten wie Geist und Macht, Nüchternheit und Phantasie, Entrücktheit und Erdung, Gesundheit und Krankheit, Wirklichkeit und Kunst. Kurz gesagt, es ist der Zusammenstoß von „skurrilem Schönheitssinn und praktischer Realität“.

Mühelos wird da auf einem halben Hundert Buchseiten ein Kosmos eingefangen mit diesem federleichten Netz aus feinsinnig geknüpfter, wirkungsstarker Prosa. Aber am Klavier mit den leidenden Wagnerianern im Moment ihrer so begrenzten, nach ihrem Maß immerhin entgrenzten Seligkeit, da gehen dem Schauspieler, der sonst fast immer jeder Silbe das ihr zustehende Gewicht zu geben imstande ist, also da gehen dem großen Komödianten die Pferde durch. Das stört die subtile Mannsche Sprachkunst.

Das Werk wird dabei zwar nicht zerrissen, doch seine raffiniert ausgetüftelten Ambivalenzen werden zugedeckt. Dabei liebt der Autor die tragikumwölkten Schöngeister zutiefst, leidet schwer mit ihnen und hofft. Und spinnt sie sorgfältig ein in sarkastisch schillernde Ironie. Doch durch sein immer wieder gern krasses Bloßstellen der zwei traurig Hilflosen, Einsamen, Verlorenen zieht Will Quadflieg nicht durchweg gleich mit Thomas Mann.

Am Ende jedoch, als der Herr Spinell sich kühn zum Äußersten entschließt, sich vor Frau Klöterjahn stellt und ihrem notorisch unwissenden, entnervend rotwangigen, vor Selbstgefälligkeit strotzenden Gatten seine abgrundtiefe Verachtung entgegen schleudert, spätestens dann trifft der Sprecher wieder sicher den Ton zwischen Identifikation und Distanz. Und ist großartig.

Als Nachspiel zum angespannten Text gibt es entsprechende Musik: Das Vorspiel zu Wagners „Tristan und Isolde“, anschließend das Finale dritter Akt, den sogenannten „Liebestod“ mit Birgit Nilsson und dem Orchester der Bayreuther Festspiele; Dirigent Karl Böhm.

Thomas Mann: Tristan. Gelesen von Will Quadflieg. Zwei Audio-CD, Deutsche Grammophon, ab 16,00 Euro im Versandhandel.