23. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2020

Faschismus ohne Konturen

von Bernhard Romeike

Der US-amerikanische Professor der Philosophie Jason Stanley gilt als Faschismus-Experte. Als solcher wurde er jüngst von der Berliner Zeitung zum Corona-Ausnahmezustand in den USA befragt. Er meint, Donald Trump benutze die Krise dazu, „seine ultranationalistische Ideologie anzufüttern“. Sodann erklärt Stanley, Trump interessiere nur die Inszenierung. „Bei der ersten Pressekonferenz zum Virus hat er mit 40 Offiziellen auf der Bühne gestanden, die alle nur ihn angeschaut haben. Das war vollkommen faschistisch.“

Wie bitte? Es ist „vollkommen faschistisch“, wenn einer auf der Bühne steht, und alle schauen ihn oder sie an? Dann wären Angela Merkel oder Markus Söder ebenfalls Faschisten, wenn sie vorn stehen und alle schauen sie an? Ist dann jede Hamlet-Aufführung, bei der die Zuschauer auf die Bühne schauen, statt auf ihr Handy oder ihre Fingernägel, eine faschistische Veranstaltung?

Es breitet sich bereits seit geraumer Zeit ein Drang aus, der inzwischen offenbar nicht nur sensationsgierige Publizisten, sondern auch Philosophieprofessoren erfasst hat, alles und jeden, das, die oder den man für reaktionär, autoritär oder politisch nicht korrekt hält, kurzerhand zum Faschisten zu erklären. Dabei wird der real existiert habende Faschismus verharmlost und veralltäglicht, verliert seine kategoriale Bestimmung und jegliche Kontur.

Deshalb sollte an Grundmerkmale erinnert werden. Nicht diskutieren will ich jetzt die Frage, ob nun Hitlers Partei- und Polizeistaat sich das Kapital für den Revanchekrieg dienstbar gemacht hat (es wurden ja auch Großkapitalisten, und zwar nicht nur jüdische, enteignet und umgebracht, wenn sie der herrschenden Clique nicht passten), oder das deutsche Kapital die Nazis für diesen Krieg in Dienst nahm.

Diskutieren will ich die strukturellen Charakteristika. Nehmen wir die sehr ausführliche und letztlich beklemmend zu lesende Biographie Heinrich Himmlers von Peter Longerich, die 2008 erschien. Bereits im März 1933, im Prozess der „Machtergreifung“ Hitlers und der NSDAP, wurde Himmler, der schon vorher „Reichsführer“ der SS war, zugleich kommissarischer Polizeipräsident, dann „Politischer Polizeikommandeur Bayerns“. Bei Longerich heißt es: „Als Ergebnis dieser Serie von Ernennungen und Kompetenzübertragungen war Himmler innerhalb kürzester Zeit Herr über einen erheblichen Machtkomplex geworden: Er lenkte einen aus der allgemeinen Polizeiorganisation herausgelösten, landesweit straff organisierten Apparat einer ganz auf die Bekämpfung der politischen Gegner ausgerichteten Sonderpolizei und war befugt, die SS im Rahmen der ihm neu zugewachsenen Zuständigkeiten zum Einsatz zu bringen. Dank der Schutzhaft konnte er willkürlich Verhaftungen vornehmen, und dank der Erlaubnis, Konzentrationslager zu betreiben, waren diese Gefangenen ihm und seiner Willkür auf unbestimmte Zeit ausgeliefert.“

Am 18. Juni 1936 wurde Himmler als Chef der gesamten Deutschen Polizei eingeführt. Auf dem Weg dorthin hatte die SS Ende Juni, Anfang Juli 1934 eine wesentliche Rolle bei der Ausschaltung der SA und ihres Chefs Ernst Röhm als eines eigenständigen Machtfaktors im NS-Staat gespielt. Und Himmler hatte sich gegen alle Konkurrenten in Hitlers Machtsystem, darunter auch Hermann Göring und verschiedene Gauleiter der NSDAP, durchsetzen können. Himmler war nun Herr über die SS, die Geheimpolizei, die „normale“ Polizei, einschließlich der Feuerwehren im ganzen Land, und die Konzentrationslager. Mit der Fortsetzung des Instituts der „Schutzhaft“, einer dem Wesen nach zeitlich unbegrenzten und keinerlei rechtlicher Überprüfung unterworfenen Inhaftierung, hatte sich „der willkürlich handelnde Maßnahmestaat gegen den an Normen gebundenen Rechtsstaat durchgesetzt“, schrieb Longerich. Zaghafte Versuche des Innenministers und des Justizministeriums, die es im Nazistaat auch noch gab, irgendeine rechtskonforme Kontrolle einzuführen, konnte Himmler mit Zustimmung Hitlers abwehren. Ab 1943 war er dann auch noch in Personalunion Reichsinnenminister. Kurz nach Kriegsbeginn 1939, nachdem die massenhaften Verbrechen der SS-Einsatzkommandos in Polen gegen jüdische und polnische Menschen begonnen hatten, erreichte es Himmler zudem, dass für SS und Polizei eine eigenständige Gerichtsbarkeit geschaffen wurde, die analog der seit je bestehenden Militärgerichtsbarkeit Strafen für Angehörige von SS und Polizei verhängen konnte. Deren Verbrechen waren damit sowohl der formal noch bestehenden „normalen“ als auch der Militärgerichtsbarkeit entzogen, Himmler war damit auch der Oberste Richter über all seine Unterstellten.

Wenn wir das vergleichend betrachten, waren auch für die faschistischen Systeme in Italien unter Mussolini, in Franco-Spanien und in Chile unter Pinochet der Terror und die Beseitigung der Rechtsstaatlichkeit konstitutiv. Der rassistische Massenmord und der Vernichtungskrieg waren eine Eigenheit Nazi-Deutschlands, der Aggressionskrieg war Deutschland und Italien gemeinsam, während Franco sich nach der Errichtung seiner Macht aus dem Zweiten Weltkrieg heraushielt und die Pinochet-Diktatur von vornherein eine rein innenpolitische Angelegenheit war. Der Terror war jedoch allen gemeinsam, und deshalb ist der Begriff Faschismus zutreffend.

Aber die USA? Die Wahlen finden regelgerecht statt, die Gerichte urteilen nach Recht und Gesetz, der Kongress arbeitet ungestört, wie seit über 200 Jahren. Trump musste kürzlich ein Amtsenthebungsverfahren über sich ergehen lassen, dem er nur knapp entronnen ist. In Hitler-Deutschland hätte allein die öffentliche Äußerung eines solchen Ansinnens in Sachen Hitler dazu geführt, dass derjenige sofort in Himmlers Mord-Maschinerie geraten wäre. Und Krieg? Trump hat im Unterschied zu allen seinen Vorgängern seit Jimmy Carter keinen neuen Krieg der USA begonnen und lässt derzeit daran arbeiten, die Truppen auch aus Afghanistan zurückzuholen. Donald Trump ist gewiss ein Reaktionär. Aber ein Faschist? Weil die anderen ihn ansehen?

Eine konturlose, inhaltsleere Benutzung des Wortes Faschismus kann sowohl in Bezug auf die Vergangenheit als auch für das Verständnis der Gegenwart nur von Schaden sein. Vielleicht sollte auch ein Philosophie-Professor sich die Zeit nehmen, und mal lesen, was Historiker bereits erforscht und aufgeschrieben haben.