23. Jahrgang | Nummer 3 | 3. Februar 2020

Leben am Abgrund …

von Joachim Lange

Beide haben sich ihren Ruf als Zucht- und Exerzitienmeister der Bühne redlich erarbeitet: Andrea Breth und Ulrich Rasche.

Sie, Jahrgang 1952; mittlerweile die Regiealtmeisterin in über 40 Jahren mit einem Streifzug quer durchs Repertoire. Bochum, Berliner Schaubühne, Wiener Burgtheater – immer in der Preislage. Schiller oder Tschechow lassen sich kaum besser machen. Ausflüge in die Oper inklusive. Eine Künstlerin, die mittlerweile auch offen über ihre eigenen Gefährdungen reden kann. Bei ihr wird der eigene Erfolg auch schon mal zur Bürde. Er, Jahrgang 1969; der angesagte Aufsteiger der Branche, im Grundsätzlichen durchaus nicht unumstritten seit der Triumph der Form sein Markenzeichen ist. Bühnensprengende Laufbänder, Drehscheiben, Podien. Chorisches Sprechen. Sein Theater greift Einar Schleefs einpeitschendes Wortsalven-Theater auf; ist dessen noch düsterer Nachfolger.

Immerhin gehen weder bei ihr noch bei ihm Worte verloren. Weil sie kein Assoziationsnebel vom rechten Pfad der Stücke abbringt. Deren ursprünglicher Gestalt bleiben Breths Arbeiten freilich deutlich mehr verpflichtet, als die von Rasche. Der erfindet seine Bühnenräume selbst (respektive variiert immer wieder den einen) und rüstet ihn mit einem hinzugefügten Soundtrack auf. Das ist immer zugleich ein Härtetest für das Nervenkostüm und das Rezeptionsvermögen der Zuschauer.

Ein Vergleich zwischen den beiden liegt in der Luft, weil sie in Berlin an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit neuen Arbeiten das Bühnenjahr 2020 eröffneten. Breth am Berliner Ensemble mit Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“ und Rasche am Deutschen Theater mit Sarah Kanes „4.48 Psychose“. Bei den Gendergralshütern in Berlin dürfte diese Autorinnen-Frauenquote Eindruck machen! Eine (letzte hier zu vermerkende) Gemeinsamkeit der beiden Regisseure gibt es noch: sie waren in der Vergangenheit mit Arbeiten beim Theatertreffen zu Gast – geben an den beiden Häusern aber erst jetzt ihr Regiedebüt.

Die Stücke von Yasmina Reza (*1959) sind längst eine sichere Bank. Wer „Kunst“ oder den „Gott des Gemetzels“ ansetzt, der will seine Stars glänzen lassen. Und ein volles Haus. Gehobener Boulevard mit Hintersinn – das funktioniert. Die Masche: Treffen sich Freunde und reden über Kunst, oder Paare und klären eine Banalität und im Handumdrehen bröckeln die Fassaden, brechen verborgene Konflikte auf und eskalieren. Im Grunde ist das auch bei „Drei Mal Leben“ so. Auch wenn es hier, im Gegensatz zu dem, was sonst so in französischen Filmen oder Stücken auf dem Speiseplan steht, nur Chips und abgepackte Häppchen gibt.

Luc Bondy hatte vor 20 Jahren bei der Uraufführung in Wien mit Susanne Lothar, Ulrich Mühe, Andrea Clausen und Sven-Eric Bechtolf vorgemacht, wie aus einer verunglückten Abendeinladung geglücktes Theater in drei Varianten werden kann. Ohne, dass dabei die komödiantische Leichtigkeit auf der Strecke blieb. Ein Abend im Licht der Worte und des doppelten Bodens. Breth geht aber nicht von vorne durch die Komödientür auf das Stück zu, sondern kommt durch die Hintertür der Abgründe. Und landet im Dunkeln. Im Grau der Sitzgarnituren und dem funzligen Stehlampenlicht der sparsamen Bühnenmöblierung von Raimund Orfeo Voigt. Man staunt, dass das Ehepaar Finidori (August Diehl gibt den Fiesling Hubert und Judith Engel sein Eheanhängsel Ines) nicht einfach wieder gehen und Sonja (Constanze Becker) und ihren Henri (Nico Holonics) in der Feierabendidylle und mit ihrem quengelnden Gör alleine lassen. Vereinbart war sowieso der nächste Abend und Ines hat eh ein Problem mit einer Laufmasche. Aber jetzt sind sie nun mal da und exerzieren ihre Erziehungsdifferenzen und den Umgang mit den Bosheiten, die Hubert wie einen Schlag in der Magengrube Henris platziert, durch. Beide Männer sind Astrophysiker – der Gast der erfolg- und einflussreichere. Ganz nebenbei lässt er fallen, dass ein Kollege in Mexiko das Thema, an dem Henri seit drei Jahren arbeitet, in einer gerade erschienenen Veröffentlichung abgehandelt habe.

Der Umgang mit dieser Nachricht und die Wirkung, die sie entfaltet, bilden den Plot. Den setzen Andrea Breth und ihr Quartett dem Publikum – das ist der dramaturgische Gag, den schon der Titel verrät – in drei Varianten vor, die zwar differieren aber sich nicht wirklich prinzipiell unterscheiden. Ohne, dass sie einen dazu verführen, das, was verhandelt wird, für so nachvollziehbar zu halten wie den Konflikt im „Gott des Gemetzels“. „Drei Mal Leben“ hat sich nicht so gut gehalten, wie andere Reza-Stücke, die ohnehin nicht so scharf bei den offenen Fragen der Zeitläufte nachhaken, wie etwa die ähnlich gebauten, aber brisanteren und obendrein politischeren Stücke von Pulitzerpreisträger Ayad Akhtar.

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Sarah Kanes (1971–1999) letztes Stück „4.48 Psychose“ ist das genaue Gegenteil von Leichtigkeit, verhält sich zu dem Kosmos der Bosheiten bei Reza wie ein schwarzes Loch, dass alles Leben verschlingt. Ein Schmerzens- und Verzweiflungsmonolog einer noch nicht ganz Toten, die sich dem Leben wie es sich für sie zeigt verweigert. Es ist eine postdramatische Flut von hervorbrechender Verzweiflung, bei der man nicht genau weiss, ob sie von der gerade noch Lebenden oder schon Toten stammt. Der von Durs Grünbein ins Deutsche übersetzte Text ist in seiner Mischung aus Halluzination, Krankenakte und Reaktionen der medizinischen oder sonstigen Umwelt für sich genommen schon starker Tobak. Rasches Methode – das könnte man dem Abend genauso gut als Dopplung ankreiden, wie auch positiv vermerken – entspricht in der Form genau dieser elementaren archaischen Verzweiflung. 4.48 ist die Uhrzeit mit dem Augenblick von Klarheit und der Selbsterkenntnis in der Krankheit.Gespenstische Authentizität gewinnt dieser Text ohnehin, weil die Autorin sich mit 28 Jahren selbst in der Psychiatrie umgebracht hat.

Dazu schafft Rasches Methode eine gewisse Distanz, weil sie den Text auf ein kollektives Ich verteilt. Das besteht zwar auch aus erkennbaren Individuen, setzt aber nicht auf die Wirkung des einzelnen. Katja Bürkle, Kathleen Morgeneyer und Linda Pöppel teilen sich mal im Solo, mal kollektiv das leidende ICH und (ver-)führen uns in das Innere der auf den Tod hin Kranken. Elias Arens, Thorsten Hierse, Toni Jessen, Jürgen Lehmann, Justus Pfankuch und Yannik Stöbener sind quasi das Echo der Außenwelt, wie sie vom ICH wahrgenommen wird. Die Zeit ist ebenso aufgelöst wie die Grenze zwischen dem Personal außerhalb und innerhalb der Psychiatrie. Dem skandierten Text ist eine machtvoll aufwühlende, immer wieder eskalierende Tonspur unterlegt, die die Zuschauer in diese Selbsterkundung über die fast drei Stunden eines pausenlosen Theaterhärtestes hineinzieht. Wenn man den Widerstand gegen diese Vereinnahmung aufgibt, dann hat man die Chance, den Abend als elementares Erlebnis wahrzunehmen. Wer blockiert, ist verloren. Die Musik wird von Carsten Brocker (E-Orgel), Katelyn King und Spela Mastnak (Schlagwerk) sowie Thomsen Merkel (Bass) nicht nur live, sondern auch sichtbar produziert. Kompostion und musikalische Leitung obliegen Nico van Wersch. Die Musiker und ihre Instrumente bewegen sich selbst – so wie die Laufbänder auf der Drehscheibe – durch den Raum. Diesmal gibt es keine aufgerichteten rotierenden Scheiben oder Hubpodien. Alles bleibt in der Horizontalen auf dem Bühnenboden. Was die Musiker hervorbringen, das ergreift die im fleischfarbenen oder dunklen Dress steckenden Körper der Crew, die einen Abgrund oder eben ein schwarzes Loch umkreist und aufpassen muss, nicht darin zu verschwinden. Fürs Auge des Betrachters passiert das immer wieder. Wenn sie auf ihren Laufbändern auf uns zuschreiten und doch nicht näher kommen und dann wieder im Dunkel der raffiniert ausgeleuchteten Bühne verschwinden. Wenn alles vorbei ist, muss man durchatmen. Und kann über die unbändige Kraft staunen, die Theater immer noch entfalten kann.

Nächste Vorstellungen von „Drei Mal Leben“ im Berliner Ensemble: am 14., 15., 16. Februar 2020.

Nächste Vorstellungen von „4.48 Psychose“ im Deutschen Theater Berlin: am 12., 13., 28., 29. Februar 2020.