Seit ihrem 1992 erschienen Roman „AHAWAH – Das vergessene Haus“ über ein ehemaliges jüdisches Kinderheim in der Auguststraße gehört die Publizistin und Historikerin Regina Scheer zu den großen Berliner Chronisten insbesondere jüdischer Stadtgeschichte und der damit verbundenen Biographien. Immer geht es dabei um die wechselvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts, erzählt über persönliche Lebenswege und Schicksale. Ihr Roman „Machandel“ (2014) wurde mit zwei Literaturpreisen ausgezeichnet, vielbeachtet wurde auch die Familienbiographie „Wir sind die Liebermanns“.
Seit geraumer Zeit beschäftigt sich die 1950 in Ostberlin geborene Schriftstellerin mit dem Wedding (wo sie auch wohnt), mit seiner Geschichte und seinen Geschichten. So moderierte sie einige Jahre lang das „Erzählcafé“ im Bürgersaal in der Malplaquetstraße, zu dem sie interessante Menschen einlud und vorstellte, die aus ihrem Leben erzählten.
Ihr neuer Roman „Gott wohnt im Wedding“ spielt in einem alten, heruntergekommenen Mietshaus in der Utrechter Straße; ein Haus voller Lebensgeschichten, in dem sich das gesamte letzte Jahrhundert bis in die Gegenwart spiegelt. Hier kreuzen sich Lebenswege früherer und jetziger Bewohner: Laila, eine junge Frau aus Polen, die gar nicht weiß, dass einst ihre Sinti-Familie hier wohnte. Leo, der seit 70 Jahren in Israel lebt und – zusammen mit seiner Enkelin – nach Deutschland zurückkommt, obwohl er das eigentlich nie wollte. Der Deportation und Ermordung entkam er als „U-Boot“, als untergetauchter jüdischer Berliner. Hier, in diesem alten Mietshaus fanden er und sein Freund Manfred einige Monate Unterschlupf bei der jungen Gertrud, bis Manfred im Frühjahr 1944 verraten und verhaftet wurde. Gertrud, inzwischen eine alte Frau, lebt immer noch hier; mit Manfred erlebte sie eine kurze, intensive Liebe.
Als Erzähler, der wie ein Rahmen diese individuellen Geschichten fasst, tritt auf: das Haus selbst. Ein Haus, das schon viel erlebt hat und die Lebensgeschichten seiner Bewohner in sich trägt: all die Tragödien, kleine und große Dramen, Verzweiflung, Hoffnung und glückliche Momente.
Regina Scheer ist nicht nur eine genaue Beobachterin des Kiezes, den sie präzise schildert, und seiner aktuellen Entwicklung. Mit großer Virtuosität erzählt sie die Geschichte von der Erbauung des Hauses bis heute, als es in die Hände dubioser Spekulanten und einer anonymen, international agierenden Immobiliengesellschaft fällt, die das Haus entmieten und für einen lukrativen Neubau abreißen lassen wollen. Aber auch die Geschichte der Enteignungen und Arisierungen, später dann der Restitutionsansprüche und Rückübertragungen wird minutiös geschildert. Dass all das auf akribischer, langwieriger, geduldiger Recherche und Zeitforschung beruht, versteht sich bei Regina Scheer von selbst, die gekonnt all die kleinen Puzzleteilchen zu einem Ganzen zusammenführt.
Regina Scheer ist eine wunderbare, empathische Erzählerin, die die Leben ihrer Protagonisten in einem weit gespannten Bogen literarisch verwebt, lebendig, authentisch. Die Menschen in ihrem Buch sind keine Helden, sondern einfache Leute, die sich so durchschlagen, manche schon mit einem Bergwerk voller Erinnerungen, andere mit der Hoffnung auf ein bisschen Glück, eine Chance, ein Ankommen irgendwo. Es sind alte Einheimische und neu Zugezogene, Geflüchtete oder ehemals Verfolgte, manche auf Transit, viele auf der Suche nach einem Ort, der im Existenzkampf zumindest etwas Zuflucht und Sicherheit bietet. Die Bewohnerschaft des Hauses ist so bunt gemischt wie der Wedding: von der alten Gertrud bis zu den jungen Sinti-Familien aus Rumänien, denen ein dubioser Verwalter noch die letzten Euro abknöpfte, um sie teuer hier hausen zu lassen – wohl in der Hoffnung, das möge die anderen Mieter schneller aus dem Haus treiben.
Hat man einmal mit der Lektüre begonnen, mag man dieses unsentimentale, aber ungemein bewegende Buch einfach nicht mehr aus der Hand legen – bis zum Ende.
Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding. Roman, Penguin Verlag, München 2019, 416 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Regina Scheer, Ulrike Steglich, Utrechter Straße