23. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2020

Literaturstadt Berlin

von Klaus Hammer

Roswitha Schieb, bekannt geworden durch ihre literarischen Reiseführer, hat jetzt eine „Berliner Literaturgeschichte” vorgelegt. In neun Kapiteln – vom Barock und der Aufklärung bis in die Wendezeit und das wiedervereinigte Berlin – führt dieses auch mit vielen Abbildungen ausgestattete Buch durch die Epochen der Berliner Literaturgeschichte. Es stellt die wichtigsten Werke aus fast 400 Jahren vor und erläutert sie im geschichtlichen Zusammenhang. Informationen zu den Lebensumständen der Dichter und Schriftsteller erleichtern den Zugang zu den literarischen Zeugnissen und ihrem Zeithintergrund. Die Autorin sieht es als ihre Aufgabe an, Literatur und historischen Kontext wechselseitig zu erhellen. Charakteristische Werke werden in eigenen Beiträgen – sogenannten „Infokästen“ – gesondert besprochen.

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Im Barock sind die literarischen Zentren die absolutistischen Fürstenhöfe beziehungsweise wirtschaftlich starke Städte mit einem selbstbewussten Patriziat oder einer tonangebenden Universität wie Nürnberg, Hamburg, Breslau, Leipzig und Königsberg. Berlin spielt noch keine Rolle. Für Paul Gerhardt, der unter den Kirchenlied-Dichtern im 17. Jahrhundert herausragt, ist die Berliner Zeit ein Höhepunkt in seinem Leben und Schaffen. Dagegen kündigt sich der Freiherr von Canitz bereits als ein Mittler zwischen Barock und Aufklärung an. „Mit Voltaire und dem aufgeklärten Absolutismus Friedrichs II. trat Preußen auf die Bühne des europäischen Geisteslebens“, heißt es dann. Aber der preußische König, der bestrebt war, die französische Aufklärung nach Preußen, nach Berlin zu holen, lehnte die deutsche Literatur weitgehend ab. Es werden Anna Louisa Karsch, Karl Wilhelm Ramler und Ewald von Kleist als Vertreter der Aufklärungslyrik genannt, während mit dem jungen Lessing in dessen Berliner Jahren ein neuer, frischer Ton in die literarische Kritik kam (in Berlin entstand 1755 „Miss Sara Sampson“, sein erstes deutsches bürgerliches Trauerspiel). Zusammen mit Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn war Lessing mit dem Gemeinschaftswerk „Briefe, die neueste Literatur betreffend“ wesentlich an der Etablierung der Literaturkritik und an einer kritischen Öffentlichkeit beteiligt. Durch Moses Mendelssohn wurde Berlin Zentrum der jüdischen Aufklärung.

In Berlin sind dann die Früh- wie auch die Spätromantik beheimatet. In der satirischen Komödie „Der gestiefelte Kater“ (1797) von Ludwig Tieck empört sich ein „aufgeklärtes“, an die Rührstücke Ifflands und Kotzebues gewöhntes Publikum über einen redenden Kater als Bühnenheld. Das Stück als fröhlich inszenierter Theaterskandal persifliert das Berliner Theaterpublikum. Friedrich und August Wilhelm Schlegel geben 1798 bis 1800 ihre programmatische Zeitschrift Athenäum heraus, Heinrich von Kleist besorgt die Berliner Abendblätter (1810/11), die erste Berliner Tageszeitung. E.T.A. Hoffmanns erste Erzählung „Ritter Gluck“ (1809) entsteht zwar in Bamberg, spielt aber in Berlin. Hoffmann beginnt Berlin als Handlungsort auszuloten, bis es in „Vetters Eckfenster“ (1822) selbst zum Protagonisten wird. Hätte man nicht auch „Meister Floh“ (1822) nennen müssen, den der Berliner Polizeipräsident von Kamptz nicht ohne Grund auf sich bezogen hat, etwa die Anklage des gegen Peregrinus Tyß auftretenden Prozessgegners Knarrpanti? Die Vertreter der Spätromantik lassen sich grundsätzlich in Berlin verorten. Neben E.T.A. Hoffmann sind das Eichendorff, Brentano, Fouqué, Bettina von Arnim, Achim von Arnim und vor allem auch Tieck, die vor allem (Kunst-)Märchen, Sagen, Novellen und Romane verfassten, wobei vordergründig das Unheimliche und Schaurige thematisiert wurde.

Zum ersten Mal nehmen Frauen eine herausragende Stellung in der literarischen Öffentlichkeit ein. Die Salons von Henriette Herz und Rahel Levin Varnhagen werden zu Brennpunkten des geistigen Lebens in Berlin. Bettina von Arnim tritt als Schriftstellerin erst spät hervor. Aber ihr „Armenbuch“ (1844), jene bewegende Reportage über das soziale Elend der proletarisierten Schichten in Berlin, fehlt bei Schieb.

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Der neue Typus des freien Schriftstellers, der sich schon im 18. Jahrhundert herausgebildet hat, etabliert sich auf der Grundlage eines modernisierten Verlagswesens wie in anderen größeren Handelsstädten so auch in Berlin. Neue literarische Genres entstehen: das Feuilleton, Reisereportagen und -briefe, aktuelle Zeitkommentare. Das Rebellentum der Jungdeutschen bricht bald zusammen. Dass Christian Dietrich Grabbe aber in Berlin 1822 seine Komödie „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ abschloss, eine bissige und höhnische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen literarischen Gesellschaft, ist vergessen worden. Auch das Berlin der Vormärz-Dichter kommt im Band etwas stiefmütterlich weg. Im Berlin des Nachmärz findet der Schweizer Gottfried Keller zur Literatur. Hier schreibt er mühsam die erste Fassung seines Romans „Der grüne Heinrich“ und dann schon gelöster den ersten Teil des Novellenzyklus’ „Die Leute von Seldwyla“. Wilhelm Raabe entwickelt 1856 mit seinem Erstlingswerk, dem Roman „Chronik aus der Sperlingsgasse“ eine neuartige, assoziative und reflexiv gebrochene Erzählweise. Theodor Fontanes Romanwerk gilt als literarisches Spiegelbild Berlins und Preußens: „Irrungen, Wirrungen“ (1887), die bitter-süße Liebesgeschichte zwischen Baron Rienäcker und der Weißnäherin Lene Nimptsch, und „Frau Jenny Treibel“ (1892), in dem Fontane dem Typus der neureichen, sentimentalen Bourgeoisie mit großer Ironie und unverhohlener Kritik begegnet, werden besonders hervorgehoben.

Gerade in den 1880er Jahren wirkt Berlin wie ein Magnet auf junge Schriftsteller. Nicht der Prunk der neuen Reichshauptstadt zieht sie an, sondern sie fühlen, dass hier eine Stadt in Gärung, im Aufbruch ist. Programmatisch beginnt die Berliner „Freie Bühne“ mit wegweisenden Stücken für die damalige Theateravantgarde. Die Uraufführungen von Gerhart Hauptmanns sozialen Dramen „Vor Sonnenaufgang“ 1889 und „Die Weber“ 1893 lösen Theaterskandale aus. Naturalistische Stücke wie „Familie Selicke“ von Arno Holz und Johannes Schlaf werden genannt, Hermann Sudermanns soziales Drama „Die Ehre“ nicht. Die gemeinsam von Holz und Schlaf verfasste Prosa von „Papa Hamlet“ (1889) revolutioniert die Sprache und entwickelt eine neue Zeitdimension durch den sogenannten Sekundenstil. Gerhart Hauptmann erzählt 1887 in seiner „novellistischen Studie“ „Bahnwärter Thiel“ im epischen Stil den Verfall eines einfachen Mannes, der sich dem Milieu nicht entgegenstemmen kann.

Vergebens aber sucht man nach Max Kretzer, der doch den neuen Typus des Berlin-Romans, den sozialen Großstadt-Roman, prägte. Und warum wird Otto Julius Bierbaums Roman „Stilpe“ (1897) ausgelassen, der in das Treiben der Berliner Boheme der 1890er Jahre führt und eine kritische Bestandsaufnahme der Zeit gibt? Dafür ist Robert Walser vorhanden, der während seiner Berliner Jahre mit dem „Gehülfen“ 1907 einen Roman schreibt, der wie eine spielerische Parodie auf die Untergangsstimmung der „Buddenbrooks“ anmutet. Max Reinhardt bewirkt 1906 durch die Uraufführung des Schauspiels „Frühlings Erwachen“, das mit psychologischem Scharfblick Gefühlsverwirrungen und Pubertätsnöte einer von Eltern und Schule unverstandenen Jugend um 1900 beschreibt, in den Berliner Kammerspielen Frank Wedekinds Durchbruch auf der Bühne. Heinrich Manns „Im Schlaraffenland“(1900) ist eine Satire auf das gesellschaftliche Leben der feinen Leute im Berliner Tiergartenviertel, während „Der Untertan“ (1914/18) den “widerwärtig interessanten“ Untertanen als Typus, Repräsentant und Allegorie des preußisch-deutschen Untertanen vorstellt.

Die expressionistische Bewegung findet mit Jakob van Hoddis, Georg Heym, Ernst Blass, August Stramm, Gottfried Benn, Alfred Lichtenstein ihr Zentrum in Berlin. Der Komödienzyklus „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“, den Carl Sternheim von 1911 bis 1915 publiziert, nimmt seinen Ausgang in einer kleinbürgerlichen Berliner Wohnstube um 1900 und endet in einer geadelten Industriellenfamilie. In Georg Kaisers Stationendrama „Von morgens bis mitternachts“ aus dem Jahre 1916 beherrschen Berliner Großstadtszenen das Geschehen. Kaiser verwendet wesentliche Elemente, die auf die dramatischen Revuen der 1920er Jahre und vor allem auf die wachsende Bedeutung des Films für die Literatur hinweisen.

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Zusammen mit Richard Huelsenbeck und George Grosz ist Walter Mehring der Gründer der Berliner Dada-Sektion, die sich durch politische Aktionen von der Züricher Gruppe unterscheidet. Die „Gebrauchslyriker“ Ringelnatz, Kurt Tucholsky und Erich Kästner sind ebenso vertreten wie der gegen jede Art von Jenseitigkeit gerichtete und konsequent das Diesseits verfechtende Lyriker Brecht. Erwin Piscator dient die Zeitrevue dazu, durch Bild- und Filmprojektionen dem Zuschauer einen vollständigeren Eindruck vom komplexen Weltgeschehen zu geben, in das der einzelne Held auf der Bühne verspannt ist (Toller „Hoppla, wir leben!“, 1927, aber auch Mehring „Der Kaufmann von Berlin“, 1929). Brecht führt seine Versuche mit der Chronik-Legende fort, indem er sie der Zeitrevue in Form der Moritat anglich. Weithin unbekannt ist, dass der Österreicher Robert Musil seine erste und erfolgreiche Erzählung „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ 1905 in Berlin vollendete und hier auch von 1931 bis 1933 am zweiten Teil von „Der Mann ohne Eigenschaften“ schrieb. Aber auch das berühmte Antikriegsbuch Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929) ist in Berlin entstanden – und dieser Roman der „verlorenen Generation“ und seine Verfilmung löst heftige Proteste der Nazis aus. Der Roman „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ (1931)zeigt die Berliner Zustände um 1930 wie in einem Zerrspiegel, ebenso präzise wie deformierend. Mit „Berlin Alexanderplatz“ (1929) von Alfred Döblin ereignet sich nicht nur eine Wiedergeburt des Epischen, sondern der eigentliche Held des Romans ist das pulsierende Leben der Großstadt Berlin. Die Möglichkeiten der literarischen Montage schöpft Döblin voll aus. Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ (1932) wird als detailliertes Psychogramm des deutschen Kleinbürgers vor Hitlers Machtantritt vorgestellt. Erst durch den Rückzug aus der bürgerlichen Ordnung in die private Idylle, in die symbiotisch phantasierte Kleinfamilie wird Falladas Roman so recht zum Roman des „kleinen Mannes“ – der sich klein macht und einen Führer ermächtigt.

Ein Dokument über den Machtantritt der Nationalsozialisten und die verzweifelte Lage des illegalen Widerstands, die Berliner Chronik „Unsere Straße“ von Jan Petersen, hätte nicht fehlen dürfen. Aber die Irrwege Gottfried Benns und Arnold Bronnens in der NS-Diktatur werden genauso beschrieben wie die Arbeiten Berliner Autoren im Exil oder in der inneren Emigration.

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Die Nachkriegsliteratur zeigt bald ein in Ost und West gespaltenes Berlin, Wolfdietrich Schnurre, Günter Grass , Peter Schneider, Botho Strauß werden als Repräsentanten des Westens behandelt, während im Osten Berlins Brecht und dem Berliner Ensemble, Uwe Johnson, Christa Wolf, Hermann Kant, Brigitte Reimann, Peter Huchel, Günter Kunert, Jurek Becker Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Ausführungen über Heiner Müller und Peter Hacks werden deren Bedeutung nicht gerecht. Dass sich Irmtraud Morgner in ihren großangelegten, montageartigen Romanen um ein Grundthema bemüht – den „Eintritt der Frau in die Geschichte“ – hätte entschiedener herausgearbeitet werden können. Christoph Heins Novelle „Der fremde Freund“ (1982), die Oberflächenprotokolle der Überlebensstrategie eines funktionierenden Ich vorführt (sie wird irrtümlich als „Roman“ ausgewiesen) wird zwar genannt, aber das Berlin-Thema in seinen Werken ist keiner Erwähnung wert. Auch der oppositionellen Szene im Prenzlauer Berg wird kaum Beachtung geschenkt. Die Wendezeit und das wiedervereinigte Berlin kann nur in einigen Tendenzen und Werken aufgezeigt werden, Hier sind die Prozesse einfach noch zu wenig überschaubar, um Definitives aussagen zu können.

Natürlich, es fehlen einige wichtige Werke, Bezüge und Aufschlüsse, die man sich gern in dieser Literaturgeschichte gewünscht hätte. Aber andererseits werden auch Werke und Autoren wieder aus der Vergessenheit hervorgeholt und neu ins Licht gerückt. Überhaupt stellen präzise Beobachtungen sonst übliche literarische Gemeinplätze in Frage, Diese gut aufbereitete, handhabbare Berliner Literaturgeschichte – sie wird von einer Chronik, einem Literaturverzeichnis und einem Namensregister begleitet (auch ein Titelregister wäre wünschenswert gewesen) – ist mit Engagement und Lust geschrieben. Die überträgt sich auch auf den Leser. Als Nachschlagewerk, Lese- wie Sachbuch regt sie an, Werke neu oder auch wieder zu lesen. Sie weckt Interesse für die Umstände ihrer Entstehung und Wirkung.

Roswitha Schieb: Berliner Literaturgeschichte. Epochen – Werke – Autoren – Schauplätze, Elsengold Verlag, Berlin 2019, 256 Seiten, 26,00 Euro.