22. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2019

Merkel

von Stephan Wohanka

Den Mythos nährt,
dass es passiert.

Angela Merkel

Angela Merkels Kanzlerschaft dämmert ihrem Ende entgegen. Die müde, ausgepowerte, ängstliche Regierung, der sie vorsteht, passt dazu. Zwar erholten sich nach der Abgabe des CDU-Parteivorsitzes Merkels Umfragewerte – was jedoch das Bild wenn nicht der Agonie, so doch des Niedergangs nicht wirklich aufhellte. Doch vor Kurzem: Ein Pauken … – nein; aber es sollte es wenigstens kein „Pillepalle“ mehr sein. In der Klimapolitik. Gar von „disruptiven Veränderungen“ soll Merkel geredet haben.
„Disruptiv“ und Merkel?
Nicht vorstellbar, passt einfach nicht zusammen – sie, die vieles aussaß, die Politik eher moderierte, gar zunehmend laufen ließ als wirklich betrieb, wollte plötzlich „Bahnbrechendes“ in die Wege leiten; zumal in der Klimafrage? Eine Politikerin, die einst als Klimakanzlerin galt, deren Projekt die Energiewende war und die dann die „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“ nicht mehr in der Bewahrung der Schöpfung, sondern im Sparen sah als den „beste[n] Beitrag […], den wir für die Jungen, die Kinder und Enkel leisten können“.
Ist das Torschlusspanik pur?
Nein. Eine Merkel neigt nicht zur Panik. Sie ist in all den Jahren dieselbe geblieben; sie war und ist eine konservative Politikerin mit situativen Ausschlägen mal hin zur neoliberalen, mal zur christlich-liberalen Denkungsart. Die CDU war und ist eine „kapitalistische“ Partei; in ihren Anfängen stand sie für den „Rheinischen Kapitalismus“ – immerhin der in Teilen erfolgreiche Versuch, die dem System immanenten sozialen Konflikte einigermaßen zu kanalisieren. Kaum aber hatte Merkel ihre Macht als CDU-Chefin konsolidiert, verordnete sie auf dem Leipziger Parteitag 2003 ihrer Partei das Gegenteil – ein stramm marktradikales Programm: Nur noch drei Steuersätze anstelle des bisherigen Progressionstarifs, anstatt solidarischer Krankenversicherung eine Kopfpauschale und ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Befeuert vom neoliberalen Zeitgeist und so Reagans sowie Thatchers angloamerikanischem Kapitalismusmodell huldigend rief Merkel: „Die Alternativen sind: Weiter herumdoktern und sich über die Zeit retten oder den Befreiungsschlag wagen. Ich wähle den zweiten Weg.“
Bei der Bundestagswahl 2005 ging Merkel damit gehörig baden. Sechs Jahre später, Merkel in ihrer zweiten Amtsperiode als Kanzlerin und wieder Leipzig. Doch welch ein Unterschied: Statt radikaler Reformen nun Lohnuntergrenzen und Bändigung der Marktkräfte. „Alle Parteien rücken nach links“, so der Merkel-Biograf Gerd Langguth, „davon kann sich auch die Kanzlerin nicht abkoppeln.“ Wollte sie auch nicht, denn Zeitgeist, Ergebnisse permanenter demoskopischer Befragungen – das bevorzugte politische Werkzeug Merkels – und der Wille zum eigenen Fortkommen waren deckungsgleich; all das veranlasste sie zu einer Wende in ihrer Politik.
Ihr Mentor Helmut Kohl hatte für den Machterhalt der CDU ausgegeben: „Unser Standort bleibt die politische Mitte.“ Merkel schien dieses Credo zu beherzigen. Nur musste die über die katholisch-konservativen, ländlich-monokulturell geprägten CDU-Hochburgen hinaus zunehmend in urbanen, eher multikulturellen und weit weniger konservativ geprägten Milieus gesucht werden. Dort jedoch tummelte sich eine zweite Volkspartei, die SPD; und nicht minder und langsam wachsend die BündnisGrünen – beide, CDU wie SPD bedrängend.
Wie ging Merkel mit dieser vorgefundenen Melange um?
Sie schlachtete eine konservative Kuh nach der anderen. In nur einer Legislaturperiode wurden – bei tätiger Mithilfe der SPD – so tief greifende Veränderungen für das Leben der Frauen wie nie zuvor durchgesetzt – eine „Krippenoffensive“ war der Anfang, um der traditionellen Hausfrauenehe, die in den alten Bundesländern noch prägend war, die Dominanz zu nehmen. Der Aufschrei innerhalb der Union, dass so der berufstätigen Mutter das Wort geredet werde, kam prompt. Gelingen konnte dieser „Coup“ nur, weil eine konservative Politikerin mit DDR-Vergangenheit im Chefsessel saß. Weiter: Erst war der von Rot-Grün ausgehandelte Atomausstieg undenkbar, dann wurde er nach Fukushima mit großem Furor umgesetzt. Nächstens war die Wehrpflicht dran, sie wurde ausgesetzt. Viele trauern ihr nach, wieder besonders in der Union. Erst war Merkel gegen die Homo-Ehe, dann machte sie sie im Bundestag zur Gewissensentscheidung; stimmte aber selbst dagegen. Alles in allem – ihre „zentristische Modernisierungsstrategie“ galt 2013 als maßgebliches Erklärungsmuster für „Merkels Meisterstück“, ihren „Sieg in der Mitte“.
Auf den trotzdem lauter werdendem Chor konservativer Stimmen, die CDU habe mit Kernüberzeugungen ihrer Basis gebrochen, reagierte Merkel mit einem neuen Projekt – sie erfand – wiederum gestützt auf die SPD – das Sparen, die Schwarze Null. Diese war von Anfang an eher ein politisches denn fiskalisches Vorhaben; Wolfgang Schäuble, Merkels damaliger Finanzminister meinte, man habe „irgendwann mal gesagt, wir nehmen die schwarze Null, weil die so eindeutig ist“. Merkel selbst assistierte: „Man hätte einfach nur die schwäbische Hausfrau fragen sollen, sie hätte uns eine Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.“ Was die politische Absicht unterstreicht – denn selbst Merkel weiß, dass Privathaushalte anders als Staatshaushalte funktionieren. Der Sinn des Ganzen lag vielmehr darin, den Konservativen ein Refugium, eine Wärmestube zu öffnen, um sie gegen den rauen Wind of Change zu schützen. Mit allerdings verheerenden Wirkungen für Land und Gesellschaft, die angesichts des Klimaproblems umso deutlicher zutage treten. Dabei wären schon seit Jahren eher Klima- oder Umweltvorbehalte denn bloß finanzierungstechnischer vonnöten gewesen. Und heutzutage längst eine Neubestimmung des investiven, ja interventionistischen Staates …
Zugleich vermochte Merkel mit ihrem Modernisierungskurs nicht nur einen positiven „Mobilisierungseffekt“ für die eigenen Reihen auszulösen, sondern auch einen negativen „asymmetrischen Demobilisierungsimpuls“ für ihre parteipolitischen Gegner; vulgo sie plünderte deren politischen Lagerbestand, namentlich den der SPD. Dass auch andere Parteien wie die FDP und die AfD von Merkels Strategie profitierten, sei hier nur am Rande erwähnt.
Eine „Sozialdemokratisierung der CDU“ bedeutet das alles nicht, auch wenn diese These beständig durch die Medien und das politische Feuilleton geistert, sondern ein gewolltes Abdriften in unklare politische Konturen, in Profillosigkeit. Was Peter Sloterdijk das „Vergrauen der politischen Primärfarben“ nennt.
Treffender ist es, Merkels Tun als das einer „Anästhesistin“ zu beschreiben: Sie entpolitisierte die Politik und erhob „Schweigen“ zur „Voraussetzung für gute Entscheidungen“. Also nichts erklären. Deshalb kommt Merkels Satz „Sie kennen mich“ die zentrale Bedeutung für ihr Verständnis von Politik zu.
Der Satz sollte jedoch erhebliches Misstrauen auslösen: Denn wen kennt man da? Welche Überzeugungen, Ziele vertritt sie? Geht es ihr nur um Machterhalt? Das alles blieb immer im Vagen, im Ungefähren.
Wichtiger noch – der Satz macht Merkels politisches Temperament deutlich, das mit persönlichem „Machterhalt“ einerseits richtig, andererseits nur unzulänglich erfasst ist. So unprätentiös und leise Merkel daherkommt – sie ist „der Typus des Ego-Politikers“ (Gertrud Höhler). Es ging ihr nie um die „Mitte“ als solche, sondern sie variierte situativ ihre politischen Ziele. Was zu einem politischen Relativismus führte. Merkel wurde so zur Präsidial-Kanzlerin, zur „Mutti“.
Ein derartig ichbezogener Politikstil muss tatsächlich schwer lesbar bleiben. Dies und Merkels Misstrauen anderen gegenüber führte zugleich einer gewissen Selbstgenügsamkeit. Sie sieht es vielleicht so: In der politischen Welt, in die sie eintrat und die von politischen Männerbünden („Anden-Pakt“) geprägt war, hatte sie keine Wahl. Wo jeder jeden belauerte, konnte man sich durchsetzen, indem man sich ausschließlich auf sich selbst verließ.
Seit geraumer Zeit verwaltet eine immer schweigsamere Merkel nur noch eine wachsende Summe ungelöster Probleme.
Dass dies solchen CDU-Untoten wie Merz und Koch Munition liefert, nimmt Merkel als Kollateralschaden in Kauf. Und hält es im Übrigen ganz mit dem Barden Reinhard Mey: „Und dann tue ich, was ein Baum tut, wenn ein Schwein sich an ihm kratzt.“