22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

Das gallische Dorf im Osten

von Frank Preiß

Knapp zwei Flugstunden von Berlin entfernt: eine Millionenstadt, Hauptstadt, freundlich, einladend, modern. Richtig getippt? Minsk! Belarus eilt der Ruf der „letzten Diktatur Europas“ voraus, irgendwie in der Nähe von Tschernobyl, so eine Art Russland, sicher sehr kalt …
Belarus ist ganz sicher nicht jenes Paradies auf Erden, das Millionen von Reisenden weltweit vergeblich suchen. Die endlosen Wälder, die Sümpfe und Moore, Städte und Dörfer, die keine Geschichte zu haben scheinen, taugen nicht so recht für massentouristische Glanzprospekte.  Und auch der Alltag der Belarussen ist schwieriger, als der Tourist zunächst glaubt.
Der Mai war auch in diesem Jahr wieder ein guter Reisemonat. Nunmehr für 30 Tage visafrei. Mit Belavia fliegt man direkt und preiswert. Der Flugplatz Minsk aus den 1980ern ist schick renoviert. Eine freundlich lächelnde Grenzwächterin stempelt rasch den Pass. Guten Tag, Weißrussland.
Minsk – die alte Stadt ohne betagte Bauten. Was der Erste Weltkrieg und der Bürgerkrieg ganz ließen und was die Modernisierungsdiktatur der 1930er Jahre unter J. Stalin mit Enthusiasmus aber auch mit Schweiß und Blut aus dem Boden stampfte, zermalmte der deutsch-faschistische Angriffskrieg 1941 bis 1944. Wie in einem Brennglas bündelten sich hier Tod und Vernichtung, aber auch Widerstand und Überlebenswillen. Der kalkulierte Wahn der Herrenmenschen machte keinen Unterschied zwischen Kommunisten und Juden, Russen, Polen, Weißrussen, Tataren, Ukrainern… Ein Viertel der Vorkriegsbevölkerung überlebte das Inferno nicht. Im Zentrum von Minsk erinnert das schlichte Memorial „Jama“ (Grube) an die unzähligen jüdischen Gettogefangenen, die auch aus Deutschland zur Vernichtung in den Osten gekarrt wurden. Hier ist es, das blutige Land, dass Timothy Snyder in seinem Buch 2011 beschrieb. Hier ist aber auch das Land, das sich dem gleichsetzenden Vergleich der „roten und braunen Diktaturen“ durch den Historiker aus den fernen USA so vehement widersetzt. Schon sonderbar, dieses Belarus.
Am südlichen Stadtrand findet man in Sichtweite der neu erbauten Wohnhochhäuser die Gedenkstätte Trostinez, Sammellager des Todes. Für den Besuch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zur Einweihung im Juni 2018 ist man in Belarus sehr dankbar. Ein gutes Signal in Zeiten vieler schlechter Zeichen.
Mein zweiter Reisetag ist der 9. Mai! Die Stadt hat sich herausgeputzt. Nein, eine Militärparade wie in Moskau gibt es nicht. Am Siegesplatz, dem „Ploschtschad Paramogi“ ein Meeting. Der Präsident Aleksander Lukaschenko spricht.
Das sagenhafte Unsterbliche Regiment. Da sind unzählige Frauen, Kinder, Männer; Junge und Alte mit den teilweise verblichenen Fotografien ihrer Väter, Mütter, Großeltern und Urgroßeltern. Da sieht man neben Fotos ordensgeschmückter Soldaten die Porträts von Bauernpartisanen, ernst blickender Frauen und Kinder.
Wenige hundert Kilometer weiter marschieren jahrein, jahraus SS-Veteranen und Bewunderer jener „nationalen Helden“, die auch in Weißrussland eine Blutspur hinterlassen haben. In Polen werden Denkmäler der Befreiung geschleift und auch aus Russland hört man bisweilen Töne nationalen Übermutes. Es gibt sie auch in Belarus, jene, die meinen, das Weißrussische käme zu kurz. Ihnen wird widersprochen. Präsident Lukaschenko wird nicht müde, auf die Gefahren des Nationalismus hinzuweisen und laviert geschickt. Freilich wissen er und die Machtelite auch genau, dass hier der Hebel des Regime-Change liegt. Der Maidan lässt grüßen.
Wo ist die graue Tristesse, die ich 1989 an der Swislotsch noch sah? Wo sind die Autofahrer geblieben, die noch vor 20 Jahren jeden Fußgängerüberweg ignorierten? Wo sind die Milizionäre, die ihr Taschengeld aufbesserten? Superreiche? Fehlanzeige. Ein Land ohne die für die Transformationsregionen so typischen Oligarchen. In Belarus hat sich keine Treuhand die Finger verbrannt und das Volkseigentum verscherbelt. Die Privatisierung verläuft langsam und widerspruchsvoll: Wem gehört die Welt? Grund und Boden sind nicht zur Spekulation freigegeben. In welche Taschen sollen die Gewinne fließen, wer muss die Verluste tragen? Der Staat wacht, reguliert, bestimmt, vor allem soziale Fragen, und wird von den Menschen sehr argwöhnisch beäugt. Will man tatsächlich den Friedrich Hayek-Eleven dieser Welt die Stirn bieten? Sozialpaternalismus als Antwort? Verrückt, die Weißrussen?
Wohin soll mich mein Weg diesmal führen? Wie wäre es mit einer Fahrt nach Osten, nach Gomel, in das von der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 am schwersten betroffenen Gebiet, das mit einer riesigen Kraftanstrengung weitgehend bewohnbar geblieben ist? Oder zur Baustelle des neuen weißrussischen Atomkraftwerkes in Astrawez? Energiesicherheit versus Reaktorsicherheit? Ist Vergessen stärker als Bedenken? Hat man aber nicht auch die gleichen Rechte wie Frankreich oder Finnland? Wer bietet einem Land ohne Rohstoff- und Energieressourcen faire, langfristige und kostengünstige Alternativen an? Man hört sie wohl, die schönen Worte aus Ost und West. Man sieht die gebrannten Kinder dort, wo man einem großen Bruder zu nah gekommen ist und scheut das Feuer. Selbst sei der Mann! Tatsächlich verrückt, die Belarussen?
Ich bleibe schließlich doch im Umkreis der Hauptstadt. Die Einladung auf die Datscha des Freundes, zum Grillen, zum Angeln machen mir die Wahl leicht. Dem Hergereisten wird allerorts Freundschaft, Aufmerksamkeit und menschliche Wärme zuteil. Ihm werden die vielen Fragen zum Wie, Wer und Warum offen und geduldig beantwortet. Man hat auch vorsichtig und klug formulierte Nachfragen an den Gast. Stimmte es wirklich, dass in Deutschland …?
Manch Leser dieser Zeilen mag spätestens jetzt fragen: Kein Wort über die Unterdrückung der Freiheit, über politische Verfolgung, über Wahlfälschung? Sollen die doch erst einmal ihre Hausaufgaben machen, dann können wir weiterreden, sagte jahrelang der Schulmeister, dessen Katheder selbst kippelt und knarrt. Sind diese Stimmen in letzter Zeit tatsächlich leiser geworden? Mir scheint es so  …
„Wer geht sieht mehr als wer fährt“, meinte schon der Syrakuswanderer Johann Gottfried Seume. Und auch Minsk wird besser per pedes erkundet.Es gibt viel zu sehen und viel zu bedenken in der Stadt, die im Juli 1944 nur noch eine Handvoll intakte Gebäude zählte.  Der müde Wanderer bleibt weder hungrig noch durstig. Ein Muss ist die Altstadt rund um die Nemigastraße und am Flüsschen Swislotsch und das neugestaltete „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“ sowie die „Träneninsel“ auf der ein schlichtes Mahnmal an den Einsatz sowjetischer Soldaten, viele aus Belarus, in Afghanistan erinnert.
Platz finden die Stadtplaner auch für unzählige neue Sport- und Kulturbauten. Eishockey-und Fußballstadien findet man überall. Welche Stadt aber hat einen riesigen „Palast der künstlerischen Gymnastik“ zu bieten? Schon verrückt.
Allerorten Baukräne und die Stadt sprengt beständig ihre Grenzen. Die eigene Wohnung ist das Sehnsuchtsziel vieler Bürger. Familien legen ihre Ersparnisse zusammen, der Staat fördert nach Kräften. Eigener Herd als Zeichen von Freiheit? Woher nimmt aber ein „armes“ Land, die Mittel für die Wohnungen, Schulen, Hochschulen, Kindergärten, Sportanlagen?
Der Komarowski-Markt ist ein Wahrzeichen der Stadt. Die unzähligen einheimischen Lebensmittelproduzenten ringen genauso um jeden Käufer, wie der Gewürzverkäufer aus Usbekistan oder der Brotbäcker aus Tadschikistan. Der Osten ist da. China ist präsent. Russland ist der größte Handelspartner, Indien und Südkorea fehlen ebenso wenig wie der Iran und die Türkei. In Minsk montiert man einheimische elektrische Autobusse. Auch der Trecker „Belarus“ läuft noch munter vom Band. Kleidung und Schuhe „Made in Belarus“ sind modern, preiswert und gut.
Umgerechnet rund 350 Euro beträgt das monatliche Durchschnittseinkommen. Der Staat will alle in Lohn und Brot bringen. Öffentlich geförderter Arbeitsmarkt nennt man das zu Hause. Und fürs Brot reicht es allemal, ebenso für Theater und Museen. Fahrten mit Metro, Bus und Bahnen sind für jeden erschwinglich. Für Luxus dagegen gibt es wenig Spielraum. Ein Leben der schlichten Art? Verrückt anders diese Belarussen.
Wieder zu Hause! Wahlkampf der Politiker für die Zukunft Europas und ihre eigene. Einige Schüler lernen freitags nicht mehr. Das Klima kippt lautstark, die Welt ist in akuter Gefahr! Die Bundeswehr ist kurz vorm Kollaps, was man freilich mit mehr Waffen und neuen Kasernen verhindert muss.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsweise, Eigentum und Umwelt? Unsinn! Unser Weg ist alternativlos und alles andere endet in Nordkorea, Kuba und Venezuela, höre ich da. Können wir von den Belarussen lernen? Verrückt scheint auch nur der Gedanke daran. Und verrückt sind wir im Westen doch keineswegs! Dieses Prädikat überlassen wir denn doch lieber den Weißrussen.