22. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2019

An Stätten deutscher Verbrechen – Warschau

von Hannes Herbst

An wenigen Metropolen haben sich die Deutschen im Zweiten Weltkrieg so barbarisch verbrecherisch vergangen wie an der polnischen Hauptstadt.
Das begann bereits mit den Bombardierungen Warschaus, die seit dem ersten Tag des deutschen Überfalls auf Polen, dem 1. September 1939, erfolgten und bei denen die deutsche Luftwaffe bis zu 1200 Maschinen einsetzte, sowie mit dem Artilleriebeschuss, der der Eroberung vorausging. 26.000 Zivilisten, nach anderer Quelle 35.000, fanden dabei den Tod, weit über 30.000 wurden verletzt. Und bereits in diesen Anfangstagen des Krieges wurden etwa zwölf Prozent der Gebäude Warschaus zerstört oder unbewohnbar.
Mitte 1940 richteten die Besatzer im Zentrum Warschaus ein Ghetto ein, das aus einem größeren und einem kleineren Teil bestand – beide verbunden durch eine Holzbrücke und vom Rest der Stadt durch Absperreinrichtungen sowie Übertretungsverbote mit drakonischen Strafandrohungen separiert. Als Sammellager für polnische und deutsche Juden wurde es zum größten seiner Art. Zeitweise waren bis zu 450.000 Menschen darin eingepfercht. Etwa 100.000 starben an Unterernährung und Krankheiten. Systematische Abtransporte – vor allem in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka – begannen im Juli 1942.
Was die offiziell als „Umsiedlung“ bezeichneten Transporte tatsächlich bedeuteten, wollte die Leitung des Untergrundes im Ghetto der Welt mitgeteilt wissen und schmuggelte deshalb Jan Karski, einen Angehörigen des bürgerlichen Widerstands, der sogenannten Heimatarmee, in der Uniform eines ukrainischen Wachmannes in Belzec ein, damit er als Augenzeuge über die Judenvernichtung informieren konnte. In Karskis „Geschichte eines Staates im Untergrund“ (Titel der deutschen Ausgabe: „Mein Bericht an die Welt“) ist über Belzec zu lesen: „Juden kamen nur zum Sterben in dieses Lager.“
Die Mordaktion, deren Zeuge Karski wurde, verlief folgendermaßen: In Güterwagen, die üblicherweise für 40 Soldaten ausgelegt gewesen wären, seien bis zu 130 Menschen getrieben worden. „Die Böden der Waggons waren von einer dicken Schicht weißen Pulvers bedeckt. Das war Ätzkalk. Wenn sich das Pulver mit dem Wasser verbindet, brodelt und dampft die Masse, und es entsteht starke Hitze.
Hier nun erfüllte der Kalk im grausamen Kalkül der Nazis einen doppelten Zweck. Das feuchte Fleisch, das mit dem Kalk in Berührung kommt, verliert rasch sein Wasser und verbrennt. Die Menschen in den Waggons wurden binnen Kurzem buchstäblich verbrannt, das Fleisch wurde ihnen von den Knochen gefressen. […] Zweitens sollte der Kalk verhindern, dass sich durch die verwesenden Körper Krankheiten ausbreiteten.
Von einem bis zum anderen Ende schien der Zug (er maß 46 Waggons – H.H.) mit seiner bebenden Fracht aus Fleisch zu pulsieren, zu vibrieren, zu schwanken und zu springen, als wäre er verhext. Ab und zu gab es einen seltsamen kurzen Moment der Stille, und dann begann der Zug von Neuem zu stöhnen und zu schluchzen, zu klagen und zu heulen.“
Und weiter:
„Der Zug würde etwa hundertdreißig Kilometer zurücklegen und dann auf einem leeren, verlassenen Feld anhalten. Danach würde überhaupt nichts passieren. Der Zug würde so lange stillstehen, bis der Tod in alle Ecken seines Inneren vorgedrungen war. Das würde zwei bis vier Tage dauern.
Wenn dann Ätzkalk, Erstickung und Verwundungen den letzt­en Schrei zum Verstummen gebracht hatten, würde eine Gruppe von Männern hinzukommen – junge, kräftige Juden, die die Aufgabe hatten, diese Waggons auszuräumen – so lange, bis sie selbst an der Reihe waren, in den Zug zu steigen.“
(Karski gelangte nach London und danach selbst bis zum amerikanischen Präsidenten und legte umfangreich Zeugnis ab. Unternommen haben die Westalliierten bekanntlich nichts, wobei mindestens die Zerstörung der wenigen Eisenbahnverbindungen in die Vernichtungslager durch Bombardierung im Bereich ihrer Möglichkeiten gelegen hätte.)
Als bereits etwa 300.000 Juden aus der Stadt abtransportiert worden waren, brach am 19. April 1943 der bewaffnete Aufstand im Warschauer Ghetto los. Die wenigen Hundert nur schlecht ausgerüsteten Kombattanten wussten, dass keine Aussicht auf Erfolg bestand, aber ein Fanal wollten sie setzen. Die deutschen Herrenmenschen veranschlagten drei Tage plus Aufräumarbeiten für die Niederschlagung der Revolte, denn: „Juden, Zigeuner und Mongolen aller Art sind nach echter wissenschaftlicher Auffassung beinahe Tiere oder zumindest keine vollwertigen Menschen.“ So SS-General Jürgen Stroop, der die Aktion befehligte. Doch selbst nach deren offiziellem Abschluss am 26. Mai flammte lokaler bewaffneter Widerstand noch wochenlang auf, während das Ghetto dem Erdboden gleichgemacht wurde. Stroop bekannte später: „Wir sind zu […] Willen, zur Unbeugsamkeit und Härte erzogen worden. Und nun zeigten ausgerechnet die Warschauer Juden diesen Willen und diesen Mut.“ Stroops Abschlussmeldung fasste zusammen: „Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschau besteht nicht mehr.“ Die Anzahl der Juden, die bei der Aufstandsniederschlagung getötet oder gefangen genommen und zur Ermordung in die Vernichtungslager geschickt wurden, bezifferte er später auf mehr als 71.000.
(Stroop gehörte zu den wenigen Kriegsverbrechern, die von den Westalliierten an Polen ausgeliefert wurden, wo ihm der Prozess gemacht und er schließlich hingerichtet wurde. Zuvor allerdings teilte er über 200 Tage die Zelle mit Kazimierz Moczarski, einem polnischen Mithäftling, dem ein höchst beeindruckendes Zeitdokument zu verdanken ist – „Gespräche mit dem Henker“, so die deutsche Ausgabe.)
Am 1. August 1944 schließlich erhob sich die Heimatarmee, von deren etwa 45.000 Kämpfern in und um Warschau allerdings nur jeder vierte über eine Schusswaffe verfügte. Bis zum 1. Oktober zog sich der Warschauer Aufstand hin, und noch einmal schlugen die Besatzer erbarmungslos zu. Etwa 200.000 polnische Soldaten und Zivilisten fanden den Tod. Dabei allein 50.000 Zivilisten bei einem monströsen Massaker, das die „Kampfgruppe Reinefarth“ im Warschauer Stadtteil Wola anrichtete und das als eines der größten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges gilt.
(SS-General Heinz Reinefarth war von SS-Chef Himmler als Oberkommandierender der Aufstandsbekämpfung eingesetzt worden. Reinefahrt wurde nach dem Krieg nie belangt, seine Auslieferung an Polen verweigerten die Briten. Er wurde 1949 in einem Entnazifizierungsverfahren von jeder Schuld freigesprochen und galt hernach als ehrbarer BRD-Bürger. Als solcher wurde er Abgeordneter des Landtags von Schleswig-Holstein und Bürgermeister von Westerland auf Sylt …)
Schon während der Niederschlagung des Aufstands begann die systematische Zerstörung der Überreste Warschaus. Das königliche Stadtschloss und die Johanneskathedrale wurden gesprengt. Als die Deutschen endlich abzogen, summierten sich die Kriegsschäden auf 90 Prozent der Warschauer Gebäudesubstanz.
Die überlebenden polnischen Einwohner, etwa eine halbe Million Menschen, waren zuvor deportiert worden. Dazu ist von Reinefarth der Kommentar überliefert: „[…] das ist unser Problem: So viel Munition haben wir gar nicht, um die alle umzulegen.“