22. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2019

Solschenizyns Mantel

von Frank Preiß

Vor 19 Jahren, im Juli 2000, begann die Geschichte. Der Tipp kam von einem Moskauer Freund und so landete ich in San Francisco. Ich bin zu Besuch im „russischen Amerika“, bei Swjatoslaw (Slawa) Nikolajewitsch Sabelin (1923–2009).
Mein Gastgeber wurde in Jugoslawien geboren. Sein Vater, Offizier der zaristischen Armee, kämpfte im Bürgerkrieg gegen die Sowjetmacht. 1920 folgte die Flucht aus Sowjetrussland, nach einer Odyssee durch halb Europa 1947 schließlich die Emigration in die USA.
Slawa, der sieben Sprachen beherrschte, wurde mir mit seinem wachen Verstand und seiner offenen Warmherzigkeit zum väterlichen Freund. Unsere Sozialisierung hätte unterschiedlicher kaum sein können. Hier der Absolvent einer weißgardistischen russischen Kadettenanstalt im Jugoslawien der 1930iger Jahre, dort der ehemalige NVA-Offizier, der an der Leninakademie der Sowjetarmee studiert hatte. In ungezählten E-Mails und Telefonaten vor dem Treffen in Kalifornien hatten wir aber schnell bemerkt, dass uns trotzdem vieles verbindet.
Beide fühlten wir uns Russland sehr verbunden. Selbst in der kritischen Bewertung der Geschichte Russlands und der Sowjetunion gab es mehr Schnittstellen als Kontroversen.
Schließlich die Stunden im Museum der „Gesellschaft der russischen Veteranen des großen Krieges und der Vereinigung der Kadetten der russischen Kadettenkorps“. Ein solides, schmuckes, dreistöckiges Gebäude, dem man nicht ansah, dass nur noch wenige Mitglieder aktiv waren. Die Enkel der Emigranten der ersten Welle hatten offenbar andere Interessen. Ich blätterte in vergilbten Tagebüchern, schaute alte Fotos an. Waffen, Uniformen, Orden. Nachlässe, die auch aus Venezuela, Kanada, Argentinien … geschickt worden waren. Artefakte einer vergangenen Welt. Wer sollte das ordnen? Wer sollte das erhalten? Das ist doch auch Russlands Geschichte!
Die „Verfluchten Tage“ des ersten russischen Literaturnobelpreisträgers Iwan Bunin fallen mir ein. Ein konservativer Humanist erschaudert vor der Gewalt der Revolution, die ein jahrhundertaltes Regime erbarmungslos zertrümmert. Bunin ist nicht allein in seiner pessimistischen Sicht. Verstellen Blut und Schrecken des Umbruchs den Blick auf Ursache und Folge?
Auch der sowjetische Autor Michail Scholochow wurde mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Sein Held Grigori Melechow pendelt im „Stillen Don“ zwischen Weiß und Rot im Bürgerkrieg. Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Richtig und Falsch. Wo sind die Fixpunkte zur Koordinatenbestimmung der verzerrten Maßstäbe?
Slawa hatte eine abenteuerliche Idee. Das Erbe der Emigration musste in die „Heimat“, nach Russland, in sichere Hände und der Nachwelt dauerhaft erhalten werden. In sichere Hände? Aber wie nur? Nach Russland, das nach Jahren der Herrschaft Boris Jelzins im Chaos zu versinken drohte? Seit dem 7. Mai 2000 aber hieß der Präsident Wladimir Putin.
Es floss noch einiges Wasser den Moskwa-Fluss hinab, bis es schließlich in Moskau zu einem Treffen mit einigen meiner ehemaligen Lehrer und Kommilitonen kam. Alexander Jewgenitsch Sawinkin und Igor Wladimirowitsch Domnin waren immer noch wissenschaftlich tätig. Man beschäftigte sich nunmehr auch intensiv mit dem vorrevolutionären Erbe! Schau dir mal unsere Bücher an! Heureka!
Juli 2019 wieder in Moskau. Ich stehe vor dem „Museum des Russischen Auslandes ‚Alexander Solschenizyn‘“. Der stellvertretende Direktor Igor Domnin führt mich durch die neugestaltete Exposition; alles ist multimedial, interaktiv, modern. Lesesaal, Bibliothek und Buchladen ergänzen die Ausstellung. Die Mitarbeiter des Museums haben in emsiger Kleinarbeit Sachzeugen, Dokumente und Fotos aus vielen Ländern zusammengetragen. Eine riesige Reliquiensammlung der millionenfachen Emigration nach Oktoberrevolution und Bürgerkrieg. Hier sehe ich auch Slawa Sabelins Schätze wieder.
Zu den Ursachen und inneren Zusammenhängen erfährt der Besucher dagegen wenig Analytisches. Und sehr wenig darüber, dass neben dem enteigneten Fabrik- und Großgrundbesitzer ebenso hungrige Bauern und Arbeiter das Heer der Geflüchteten und Vertriebenen bildeten, auch dem Bolschewismus ablehnend gegenüberstehende Sozialisten, Anarchisten oder einfach Verzweifelte und Entwurzelte. Für hohe zaristische Beamte, für Adel und Klerus war kein Platz im Lande der Sowjets und auch für unzählige Intellektuelle und Künstler bot das zerrüttete Land nach Krieg, Revolution und Bürgerkrieg wenig Perspektiven.
Der Rundgang durch das Museum endet im Erdgeschoss. Dort sind persönliche Gegenstände bekannter Emigranten zu sehen. Neben der Totenmaske des Sängers Schaljapin auch der Mantel des Namensgebers des Museums, Alexander Solschenizyn. Er trug ihn bei seiner Ausweisung aus der UdSSR.
Ich habe das Museum sehr nachdenklich verlassen und es klingt wie ein billiger Scherz, dass ich ausgerechnet von der Metrostation „Marksistskaja“ in das Stadtzentrum zurückfuhr und lange neben dem Denkmal für Michail Scholochow auf dem Gogol-Boulevard auf einer Parkbank verweilte. Während der bronzene Ruderer scheinbar in den Himmel strebt, umströmt das Brunnenwasser die Köpfe der verzweifelt mit dem Strom kämpfenden Pferde. Stiller Don?
Was hatte ich gesehen? War es parareligiöse Verehrung und Erhöhung einer Vergangenheit, die von der Mehrzahl der Russen skeptisch beäugt wird? War es rückwärts gerichteter Konservatismus oder Phantomschmerz einer verblichenen Großmacht? War es Ausdruck der Formung einer neuen Ideologie? Wie vereinbar ist die sowjetische Vergangenheit mit den Splittern jener Ordnung, die sie angeblich so gründlich zerstörte? Heute wissen wir, dass sehr große Teile der zaristischen Funktionseliten die Sowjetunion bis weit in die 1930er Jahre maßgeblich prägten und gestalteten. Wurden im Bruderkrieg nach 1917 bereits die Klingen für die große Säuberung 1937/38 geschärft? Welches Kainsmal zieht sich durch die Jahrhunderte? Entreißt das Museum lediglich die Schicksale von Menschen dem Vergessen, die sich im Jahrhundert der Gewalt dieser einfach nicht entziehen konnten und fest daran glaubten, ihrer Heimat und ihren Familien zu dienen? Oder ist hier gar eine der geistigen Klammern zu finden, die Russland sucht und braucht, um die Zukunft zu meistern?
Die postsowjetische Zeit ist vorüber. Im Westen tut man sich schwer mit dieser Erkenntnis. Die beliebten und gewohnten Vorurteile und Stereotype funktionieren nicht mehr, falsche Hoffnungen werden geweckt und regelmäßig begraben. Entspringt Russophobie auch aus einer gewissen Ratlosigkeit?
Die Option einer neoliberal-demokratischen Revolution nach westlichem Vorbild scheint vertan. Die Wirren der 1990er Jahre haben ebenso ihre Spuren hinterlassen, wie die aktuelle Krise der EU und das sicherheitspolitische Fiasko des monopolaren Weltherrschaftsstrebens der USA. Balkankrieg, Ukraine-Krim, Wirtschaftssanktionen, Osterweiterung der NATO, Krieg in Syrien …
In Russland hat man kein rechtes Vertrauen mehr zu den gestrigen Vorbildern und Partnern. Das Hoffen auf einen baldigen gesellschaftlichen Umbruch durch eine starke „prowestliche Opposition“ erscheint mir wie das Pfeifen im Wald. Und wer glaubt, nach Wladimir Putin werde sich die Waage unbedingt wieder dem Westen zuneigen, könnte sich gewaltig getäuscht sehen. Er und seine Nachfolger sind schon eine geraume Zeit auf der Suche nach einer eigenständigen nationalen Identität. Und da passt das „Museum des russischen Auslandes“ bestens ins Konzept.
Präsident Putin besuchte das Museum am 24. Juli, also eine Woche nach mir. Ich war schneller! Die Lesermeinungen auf den Seiten der russischen Medien, die den Besuch nicht unerwähnt ließen, belegen einerseits, dass die Weiße Bewegung und vor allem die UdSSR-Dissidenten im Westen sehr kritisch gesehen werden. Anderseits war in einer Zuschrift sinngemäß zu lesen: Wenn das Museum hilft, historische Wahrheiten zu suchen und die Einheit des Staates und das friedliche Zusammenleben der Bürger zu fördern, so sei es willkommen. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Museum des russischen Auslands „Alexander Solschenizyn“, 109240 Moskau, Nischnjaja Radischtschewskaja uliza 2, http://www.domrz.ru/