22. Jahrgang | Nummer 17 | 19. August 2019

Zur Debatte über die Revolution von 1989

von Erhard Weinholz

Drei Jahrzehnte liegt die Herbstrevolution in der DDR zurück: ein Jahrestag der bescheideneren Art, doch ein Plus an Aufmerksamkeit bringt auch er. Detlef Pollack, zu jener Zeit Mitte Dreißig, und sein zwölf Jahre jüngerer Kollege Ilko-Sascha Kowalczuk – beide aus dem Osten stammend, beide zuvor schon mit dem Thema befasst, Kowalczuk allerdings erheblich ausgiebiger als Pollack – haben den Anlass jetzt in der FAZ für eine kurze, aber heftige Auseinandersetzung genutzt. Resümierend tritt zuletzt Rainer Eckert auf den Plan, Ostler auch er und zuletzt Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Neue Horizonte werden in dieser Debatte für mein Empfinden nicht sichtbar, doch ist die Art, wie drei bekanntere Vertreter ihres Faches hier mit Geschichte und miteinander umgehen, vielleicht charakteristisch für den Zustand eines gesellschaftlich bedeutsamen Bereichs der Wissenschaften. Die Debatte ging im Übrigen noch weiter; ich beschränke mich auf diesen Beginn.
Pollack, inzwischen Professor an der Universität Münster, übt sich in Es war ein Aufstand der Normalbürger (12.7.2019, Fortsetzung online) in einer der hohen Künste des Wissenschaftsbetriebes, der Kunst, Dinge, die geradezu selbstverständlich sind, als Neuigkeit auszugeben. Denn wenn alles in allem Millionen auf die Straße gehen, viele andere sich zumindest in die Auseinandersetzungen in den Betrieben und Einrichtungen einbringen, wo die staatlichen Leiter erstmals Rede und Antwort stehen müssen, ist klar, dass da vor allem ganz normale Bürger am Werk waren. Will er erklären, weshalb er Selbstverständliches so betont, muss er eine Gegenmeinung benennen. Also lässt er uns wissen, dieser Tage werde wieder einmal die Mär zu hören sein, die Diktatur in diesem Lande sei von der Opposition gestürzt worden, den Alternativen, den langbärtigen Kirchenleuten … Ich habe eine Weile überlegt, wer in letzter Zeit eine solche Meinung vertreten haben könnte, doch fiel mir niemand ein. Wenn ich zwischen den Zeilen lange Kirchenbärte wehen sehe, dann weiß ich übrigens: Klischee im Anmarsch. Damals im Pankower Friedenskreis trug nur einer solch einen Bart: IM Donald alias Knud Wollenberger.
Auch bei Pollack steht am Anfang der Proteste ein Kirchenportal, doch hatten sich dort seiner Meinung nach vor allem Normalbürger versammelt, angeblich kenntlich an Schnauzer und Dauerwelle, Goldkettchen gab’s ja nicht in der DDR, versammelt, um in ihrer Sehnsucht nach Konsum und Reisefreiheit ohne Aufforderung, ohne Führung durch die Opposition auf die Straße zu gehen. Denn diese Opposition, an der, das erwähne ich mal ergänzend, in beträchtlichem Maße hochqualifizierte Kader der naturwissenschaftlichen Intelligenz beteiligt waren, sei immer noch sozialistischen Vorstellungen verhaftet gewesen und habe das Volk verachtet. Doch scheint Pollack selber nicht viel von jenem Volk zu halten, das hier auf die Straße ging, wenn er meint, am wichtigsten seien ihm Konsum und Reisefreiheit gewesen. Es gab sicherlich so manche, auf die das zutrifft. Doch die häufigste Forderung vom 4. November 1989 lautete: Freie Wahlen!
Pollacks bislang zitierte Darlegungen gehen größtenteils, ohne dass ich das im Detail aufzeigen möchte, an den Realitäten vorbei: Ilko-Sascha Kowalczuk, im Forschungsbereich der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU), tätig, hätte in seiner Erwiderung Eine Minderheit bahnte den Weg vom 15. Juli 2019 vieles berichtigen, manches ergänzen können. Statt dessen widmet er einen beträchtlichen Teil seiner Antwort der Diffamierung: „In letzter Zeit nun“, so sein Fazit, „scheinen die geschichtsvergessenen Signale darauf hinzudeuten, dass Gysi [der Kerl hat doch überall seine Pfoten drin – E.W.] und seine mehrfach [bekanntlich aus purer Heimtücke – E.W.] umbenannte Partei dazu übergehen, die ostdeutsche Revolutionsgeschichte neu schreiben zu wollen. Sie wollen sie als ihr eigenes Werk hinstellen. Der Beitrag von Detlef Pollack liefert dafür die Interpretation.“ Dass das nichts Gutes bedeutet, ist wohl klar; was es konkret heißen soll, ist mir unverständlich geblieben.
Revolutionsgeschichtsschreibung verdeutlicht ja unter anderem, wie aus kleinen oppositionellen Gruppen zwar immer noch minoritäre, jedoch nunmehr geschichtsbestimmende Massenbewegungen wurden. Pollack meint – nicht ganz unbegründet –, vor allem die Ost-West-Fluchten vom Sommer und Herbst 1989 hätten die Revolution befördert. Nur kann er meines Erachtens nicht hinreichend deutlich machen, auf welche Weise sie dazu geführt haben, dass daraufhin Menschen für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen sind. Ein zeitliches Nacheinander beweist bekanntlich wenig. Über die Rolle der Bürgerbewegungen, die ihm nicht in den Kram passen, schweigt er sich aus; der SED misst er an der Entwicklung jedoch ebenfalls kein Verdienst zu. Zu Recht: Für ihre systembedingte Unfähigkeit, die finale Krise dieses Sozialismus zu meistern, muss man dieser Partei bekanntlich nicht danken.
Kowalczuk stellt dagegen das Wirken der Bürgerbewegungen in den Vordergrund: Sie hätten im Sommer und Frühherbst 1989 viele mobilisiert und motiviert, auf die Straße zu gehen, sie hätten Möglichkeiten gemeinsamen Handelns geboten, Kultur und Sprache der Revolution geprägt usw. Tatsächlich wurde schon bald auf den Demonstrationen allerorts NEUES FORUM zulassen! gefordert, die ideelle Bedeutung gerade der mit Abstand größten Bürgerbewegung als Sinnbild politischer Opposition und somit eines neuen politischen Systems war beträchtlich. Doch als Bürgerinteressen bündelnde, organisierende Basiskraft ist sie bis in den November hinein aus verschiedenerlei Gründen kaum in Erscheinung getreten. Für einen Mythos gar halte ich die Behauptung, diese Bewegungen hätten die Kultur der Revolution geprägt. Dazu waren sie weder von ihrer Größe noch von der Zeitdauer und der Stärke ihres Einflusses her imstande. Aber sie waren einer ihrer Träger. Dass zum Systemwandel ein neues Denken und neue Verhaltensweisen gehören sollten, macht eine der Eigenarten dieser Revolution aus. Friedlichkeit war ein Zentralmoment; sie schloss die Bereitschaft zur Suche nach Konsens und das Bemühen um intellektuelle Redlichkeit auch im Umgang mit jenen ein, gegen die man ankämpfte. Beigetragen hat zu solcher Orientierung vielerlei, vom umfassenden Friedensbegriff des konziliaren Prozesses, der für kirchliche Gruppen bestimmend war, bis hin zum Antimilitarismus größerer Teile der Bevölkerung. Doch wissen wir, wie mir scheint, wenig über das Massenbewusstsein im Herbst 1989, über die Vorstellungen, die sich damals mit der Revolution verbunden haben: Die Sozialforscher in Ost und West hatten mit ihr wohl ebenso wenig gerechnet wie wir selber, die wir sie vollbracht haben.
Angesprochen werden in dieser Debatte aber nicht nur die Geschehnisse vom Herbst 1989, sondern auch die Erkenntnismöglichkeiten jener, die sich heute damit befassen. Kowalczuk verweist auf Pollacks Stellung als West-Reisekader, hält ihn daher für unglaubwürdig. Aber sind denn, so könnte man fragen, diejenigen glaubwürdiger, die sich damals in der DDR als Gesellschaftswissenschaftler habilitieren wollten oder die auch nur ein Studium, eine Karriere also im Blick hatten? Wer war überhaupt unverdächtig in diesem System? Ist nicht am 1. Mai mitgelaufen, was Beine hatte? Mir scheint: Wir alle sind unserer Zeit verhaftet, aber auf welche Weise, lässt sich aus unserer Stellung in den Verhältnissen nicht eindeutig ableiten.
Man soll den Aufbruch vom Herbst 1989 nicht idealisieren. Dennoch: Von jener neuen politischen Kultur, die damals wenigstens angestrebt wurde, ist in den genannten Debattenbeiträgen, die ich als Tiefpunkt der Revolutionsgeschichtsschreibung ansehe, nichts zu spüren – hier gelten die Regeln des bürgerlichen Lebenskampfes. Zuletzt bietet Rainer Eckert, Jahrgang 50 und einst einer derer, die der dienstverpflichteten DDR-Geschichtswissenschaft etwas Neues entgegenstellen wollten, in der FAZ vom 19. Juli unter dem Titel Es war keine Wende, es war eine Revolution eine Umwertung, die wohl trendsetzend wirken soll und mit der er mir seine Kollegen noch zu überbieten scheint: Inmitten seiner Darstellung von Aspekten der Vorgeschichte und Geschichte des 89er Herbstes und der stattgefundenen Debatte heißt es über die Demonstration vom 4. November, die gemeinhin als einer der Höhepunkte dieser Revolution gilt, dass es dort in genehmigter Form um systemimmanente Reformen ging.
Freie Wahlen für freie Menschen und Freie Wahlen statt falscher Zahlen und immer wieder NEUES FORUM … alles systemimmanent? Welches System meint der Autor denn da? Und war es nicht unser Ziel, dass politische Demonstrationen nicht mehr verboten werden? Diese hier, das wurde dem MfS bald klar, ließ sich ohnehin nicht mehr verhindern. Doch wenn die deutsche Einheit als Gipfel und Vollendung der Revolution gelten soll, steht die größte aller Demonstrationen des 1989er Herbstes im Wege: Sie war anderen Zielen verpflichtet. Im Rückblick wundert mich, dass man in dem Falle mit der Geschichtsumgestaltung – um es mal so zu nennen – erst jetzt beginnt. Auch sie ist übrigens eine hohe Kunst, hat aber mit Wissenschaft nichts mehr zu tun.