22. Jahrgang | Nummer 17 | 19. August 2019

Frauen im Alltag zwischen Weimarer und Berliner Republik

von Mario Keßler

Die Schriftstellerin Elfriede Brüning (1910–2014) durchlebte das 20. Jahrhundert der Umbrüche und Katastrophen zur Gänze und war auch noch am Beginn des 21. Jahrhunderts eine vernehmbare Stimme in Deutschland, ging es um Fragen der weiblichen wie der allgemein-menschlichen Emanzipation. Warum diese Stimme am Ende eines sehr langen Lebens – im Unterschied zu teilweiser Marginalisierung über Jahrzehnte hinweg – so sicht- und hörbar werden konnte, erfährt man aus Sabine Kebirs Biographie, die in ihrer Gründlichkeit besticht, mit über neunhundertfünfzig Seiten aber etwas zu lang geraten ist. Doch hat die Biographin viel zu erzählen, denn sie verbindet in gelungener Weise biographische Forschung mit Werkanalyse, wobei keiner der über dreißig Romane und Kurzgeschichten-Bände Elfriede Brünings vernachlässigt wird.
Die als Tochter einer Berliner Arbeiterfamilie früh politisch Interessierte schloss sich noch in der Weimarer Republik der KPD an – im Gegensatz zu ihrem Bruder, der der NSDAP beitrat. Erste literarische Arbeiten brachten ihr die Anerkennung im Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller, deren letztes noch überlebendes Mitglied sie später war. Sie hatte einen messbaren Anteil an der Politisierung ihrer Eltern, aus deren Milieu der Stoff ihrer frühen Romane und Erzählungen erwuchs. Damals und auch später brachte Elfriede Brüning das Problem literarisch zum Ausdruck, dass Frauen durch Schwangerschaft, Kinder und oft auch den Druck patriarchalischen Verhaltens ihrer Partner eine mehrfache Last zu tragen hatten. Solche Probleme waren auch unter Kommunisten keineswegs selten, und Elfriede Brünings weibliche Romanfiguren standen deshalb oft in einem sozusagen doppelten Kampf um die Überwindung überlebter gesellschaftlicher wie familiärer Verhältnisse.
Nach 1933 konnte sie solche Probleme literarisch selbstverständlich kaum ansprechen, da sie sich für ein Bleiben in Deutschland und gegen das Exil entschied. Sie musste ins Allgemein-Unverbindliche ausweichen, was ihr später zum Teil als Rückzug vom politischen Kampf angelastet wurde. Sabine Kebir räumt hier mit solchen Fehlwahrnehmungen gründlich auf, zeigt sie doch quellengesättigt Elfriede Brünings Teilnahme am antifaschistischen Widerstandskampf, den die Schriftstellerin in ihrer eigenen Autobiographie eher heruntergespielt hatte. Zwei von Elfriede Brünings Partnern, die Schriftsteller Jan Petersen und Heinz Pol, mussten emigrieren, und wenngleich die Verbindung zu beiden nie abriss, war eine Fortführung sowohl der einen wie der anderen Partnerschaft unmöglich geworden. Auch der späteren Ehe mit dem Dramaturgen Joachim Barckhausen, der die Tochter Christiane entsprang, war keine längere Dauer beschieden. Hier aber kämpfte Elfriede Brüning um den Erhalt der Verbindung, musste sie doch erleben, dass die Sehfähigkeit ihres Mannes immer weiter bis zur fast völligen Erblindung abnahm.
Die Befreiung 1945 wurde auch für Elfriede Brüning zum Neubeginn. Sie nahm eine Arbeit als Feuilletonredakteurin des Sonntag, der Wochenzeitschrift des Kulturbundes, auf. Dort und in anderen Publikationen aber „eckte“ sie an, da sie auch Probleme der von der Roten Armee Zivilinternierten offen ansprach. Ihre Reportagen, die auch den Stoff mancher ihnen folgender Erzählungen enthielten, behandelten unter anderem den Wiederaufbau der Industrie und die Neuorganisation der Landwirtschaft ohne die bereits geforderte Schönfärberei. Ihr Roman „… damit Du weiterlebst“, dem reale Geschehnisse des Widerstandes und der Verfolgung von Antifaschisten zugrunde lagen, wurde 1949 ein erster literarischer Erfolg. Zugleich gestaltete sich auch ihre temporäre Beziehung zu dem aus englischem Exil zurückgekehrten Bruno Heilig problematisch. Heilig war noch verheiratet und bot als Jude und „Westemigrant“ ohnehin genug Angriffspunkte – jedenfalls im parteiamtlichen Verständnis jener Zeit über Politik und Moral.
Sabine Kebir schildert ihre Protagonistin als loyale Genossin und zugleich unbequeme Autorin. Elfriede Brüning war bereit, eigene politische Zweifel, so nach der Flucht ihrer Bekannten Susanne Leonhard in den Westen, zurückzustellen, hielt aber daran fest, dass das Leben im DDR-Sozialismus Probleme bereithalte, die es ebenso schonungslos zu schildern gelte, wie es die sozialistischen Autoren der Weimarer Republik getan hatten. Es folgten Konflikte über verzögerte und schließlich abgelehnte Manuskripte von Büchern und Fernsehspielen, doch konnte Elfriede Brüning auf ihre unspektakuläre Weise einige Tabus durchbrechen, so in Berichten über Jugendwerkhöfe oder, im Roman „Septemberreise“ von 1974, über die vielschichtigen Ursachen der Flucht aus der DDR. Im vier Jahre darauf publizierten Roman „Partnerinnen“ griff sie zur Technik des inneren Monologes, um Widersprüche von DDR-Frauen, von der „Aktivistin der ersten Stunde“ bis zur selbständig Tätigen, zu schildern. Mit diesem Roman wurde sie unter kritischen Lesern und vor allem Leserinnen zu einem Geheimtipp. Ihre Bücher wurden zur „Bückware“, denn natürlich reichten auch bei ihr die Anzahl der gedruckten und vertriebenen Exemplare nicht aus, um alle Lesewünsche zu befriedigen.
Unmittelbar vor dem Umbruch 1989 erlebte ihre Familie eine persönliche Tragödie. Christianes Ehepartner, der brasilianisch-italienische Kommunist und Historiker Dario Canale nahm sich das Leben. Sabine Kebir schildert mit großem Einfühlungsvermögen, in gebotener Zurückhaltung, doch Faktentreue das schreckliche Geschehen, das der Autor dieser Besprechung am Rande miterleben musste. Dario Canale, der eine Dissertation über die KP Brasiliens und die Komintern abgeschlossen hatte, arbeitete mit ihm eine Zeitlang in der gleichen Leipziger Forschungsgruppe.
Ein Jahr darauf erschien der auf Tonbandprotokollen beruhende Band „Lästige Zeugen“ über Frauen, die das Stalinsche Lagersystem in der Sowjetunion überlebt hatten. Elfriede Brüning hatte die Arbeit daran begonnen, als vom politischen Beben in der DDR noch nichts zu spüren war. Es ist umso bedauerlicher, dass diese erstrangige Quelle in den Turbulenzen des Jahres 1990 beinahe „verschluckt“ wurde.
Die Jahre seitdem waren von Neueditionen älterer Werke, vor allem aber der Arbeit an der Autobiographie „Und außerdem war es mein Leben“ geprägt, die 1994 erschien und mehrere Auflagen, auch als Taschenbuch bei DTV, erlebte. Aus Anlass ihres 100. Geburtstages, den sie mit Tochter, Enkelin, Verwandten und Freunden im Roten Salon der Berliner Volksbühne beging, wurde der Dokumentarfilm von Sabine Kebir und Wolfgang Herzberg, „Und außerdem werde ich hundert“ uraufgeführt.
Elfriede Brüning war, wie auch der Verfasser bezeugen kann, freundlich, aufgeschlossen und am Schicksal anderer Menschen interessiert. Politisch nie irgendeinem Dogma verhaftet, blieb sie dennoch – oder gerade deshalb? – auch nach 1989 der Partei (nun der Linken) treu, ohne jemals die Grundwidersprüche der DDR-Gesellschaft zu bagatellisieren. Gerade sie hatte mit scheinbar sanfter, doch beharrlicher Entschiedenheit mehr an der Lösung dieser Widersprüche zu arbeiten gesucht, als andere, die sich dies nach der „Wende“ lautstark selbst bescheinigten. Ihr Werk und die Erinnerung an eine herausragende Persönlichkeit bringt das Buch auch einer Leserschaft nahe, die diese Geschehnisse nicht mehr selbst erlebt hat.

Sabine Kebir: Frauen ohne Männer? Selbstverwirklichung im Alltag. Elfriede Brüning (1910–2014) – Leben und Werk, Aisthesis-Verlag, Bielefeld 2017, 954 Seiten, 34,95 Euro.