22. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2019

Thüringer Quartett – Bad Frankenhausen

von Alfons Markuske

Manche fahren ja bis nach Pisa, um mal einen schiefen Turm zu sehen. Bei dem Italiener – Höhe circa 56 Meter – beträgt die Auslenkung an der Spitzen aber bloß 3,9 Meter. Bei einem anderen Schiefling von gleicher Höhe liegt dieser Wert immerhin bei 4,6 Metern! Und der steht in Bad Frankenhausen und gehört zur Kirche Unserer Lieben Frauen am Berge, auch Oberkirche genannt. So viel zum Thema: Warum in die Ferne schweifen …
Um mit Äußerlichem zu beginnen: Das gigantische von Werner Tübke zwischen 1976 und 1987 geschaffene Bauernkriegspanorama nahe Bad Frankenhausen weist eine Höhe von 14 sowie eine Breite von 123 Metern auf und ist mit seinen 1722 Quadratmetern Fläche das größte Tafelbild der Welt.
Die DDR-behördlichen Auftraggeber hatten sich zuvor unter anderem das Rundbild von Borodino angesehen, auf dem Kutusows Sieg über Napoleon sogar dreidimensional zu besichtigen ist, da vor dem gemalten Hintergrund noch figürliche Accessoires platziert worden sind. Nach Art eines Dioramas. Die bildliche Darstellung selbst zeigt das Schlachtfeld in höchst naturalistischer Weise – verstärkt durch eingespielten Schlachtenlärm. So etwas wollten die DDR-Oberen auch haben.
Drei renommierte DDR-Maler gaben den Auftraggebern ob der schieren Größe des Projekts einen Korb, darunter Bernhard Heisig („So etwas tut sich doch nur ein Verrückter an!“). Tübke war zumindest so weit geneigt, dass er sich das Vorbild Borodino zeigen ließ und den Anblick mit dem Ausruf quittierte: „In dieser Art mit mir nicht!“ Man räumte ihm daraufhin vertraglich freien künstlerischen Gestaltungsspielraum ein.
Das hatte unter anderem zur Folge, dass trotz üppigem Schlachtengetümmel und reichlich Leichen auf dem Tübke-Panorama kein einziger Blutstropfen zu sehen ist. Vor allem aber ist keine propagandistisch-didaktische Lehrtafel herausgekommen, sondern ein üppiges, vielgestaltiges Theatrum mundi einer Gesellschaft im gewaltsamen und gewalttätigen Epochewandel.
Das Panorama Museum, das das Gemälde beherbergt, wurde ob seiner zylinderartigen Form vom Volksmund schon in der späten DDR, zu Zeiten seiner Errichtung, durchaus despektierlich „Elefantenklo“ getauft. Es erhebt sich auf jenem Schlachtberg, an dem am 15. Mai 1525 die vereinigten Haufen der Aufständischen unter Thomas Müntzer ihre entscheidende Niederlage in den auch als frühbürgerliche Revolution bezeichneten deutschen Bauernkriegen erlitten. Das Gemetzel, das die Söldnertruppen diverser Fürsten mit ihrer überlegenen Bewaffnung und taktisch-operativen Führung anrichteten, als Schlacht zu bezeichnen, wäre jedoch ein übler Euphemismus: Die überraschend und unter Bruch eines vereinbarten Waffenstillstandes angegriffenen Bauern wurden mehrheitlich abgeschlachtet, bevor sie von ihren eigenen Waffen überhaupt angemessen Gebrauch machen konnten; am Ende standen über 6000 getöteten Aufständischen weniger als ein Dutzend tote Söldner gegenüber.
Fred Böhme, Mitarbeiter des Museums, begann seine Führung im abgedunkelten Rund des trefflich ausgeleuchteten Bauernkriegspanoramas mit einer Frage an die um ihn versammelten Besucher:
„Meine Damen und Herren, was erwarten Sie von mir?“
„Antworten“, erklang es aus dem Publikum.
„Oh, Gott!“
„Erklärungen“, so ein weiterer Ruf.
„Das wird ja immer schlimmer! … Also lassen Sie uns mit einem Gedankenspiel beginnen.“
Der Museumsführer verwies auf einen schlanken, hoch gewachsenen jungen Mann mit nicht eben elegantem, eher ärmlichem Outfit am unteren Rand der Winterlandschaft des Riesenpanoramas. Der Mann – mit dem Rücken zum Betrachter, er trägt lange rote Strümpfe, der Kragen seines Mantels ist hochgeschlagen – blickt schräg über seine rechte Schulter ins Publikum.
„Nehmen wir an“, so Fred Böhme, „Sie sind angestellt bei der hiesigen Sparkasse, und dieser Mann benötigt einen Kredit über 8000 Euro, um damit das Dach seines Hauses zu sanieren. Würden Sie den Kredit bewilligen? Ich bitte ums Handzeichen.“
Nur wenige Hände gingen in die Höhe, auch meine blieb unten.
„Da müssen wir wohl nicht erst nachzählen“, ließ der Museumsführer sich vernehmen. Doch dieses Ergebnis entspräche völlig seinen Erwartungen. Gesicherte Bonität sähe halt anders aus. Überdies habe eine Besucherin mal geltend gemacht, dass der Blick des Mannes verschlagen sei …
„Meine Damen und Herren, tatsächlich ist dies Werner Tübke, der Schöpfer des Bildes. Als der starb, galt er als einer der reichsten Bürger Leipzigs, und seine Bonität als unbezweifelbar.“
Damit sei man jedoch zugleich beim Kernproblem des gesamten Gemäldes angelangt: Wer darauf nach Antworten auf historische oder gar aktuelle Fragen suche und Erklärungen über geschichtliche Abläufe und den Zustand der Welt erhoffe, der werde ein ums andere Mal feststellen müssen, dass er immer wieder nur auf Uneindeutigkeiten, auch auf Rätsel stoße.
Bei einem der Beispiele, anhand derer Fred Böhme dies anschließend sehr anschaulich verdeutlicht, handelt es sich um eine Szene, in der Luther und der Papst durch ein mehrfach um beide Figuren geschlungenes Seil miteinander verbunden und in eine Art Tauziehen verstrickt sind. Eine Allegorie auf die Auseinandersetzungen zwischen Papsttum und Reformation. Eines der äußerst zahlreichen Bildzitate, das Tübke, so Fred Böhme, nachgewiesenermaßen einem zeitgenössischen Flugblatt aus der Periode der Bauernkriege entnommen hat. Genaueres Hinsehen allerdings offenbare die Sicht des Künstlers auf die Szenerie und entpuppt diese als Spiegelfechterei, als Schimäre: So habe etwa Luther (der hält ein Kreuz vor sich hin) gar keine Hand frei, um Zugkraft auf das Seil auszuüben … Und Tübke habe der Szene überdies eine Jesus-Figur mit dem Lamm auf dem Rücken hinzugefügt, die der Gruppe den Rücken kehre und von dieser wegstrebe. „Der Betrachter mag sich fragen“, so Böhme, „wozu bloß der ganze Zirkus zwischen den religiösen Kontrahenten, wenn Gott sich abwendet?“
Auf ähnliche Weise wie bei der Suche nach Antworten und Erklärungen, auch das erläutert Fred Böhme, scheitert der Betrachter beim Versuch, einen Anfang und ein Ende des Panoramas zu finden – und zwar unabhängig davon, ob man einen jahreszeitlichen Ansatz, beginnend etwa bei der winterlichen Partie des Rundbildes, wählt oder ob man versucht, der Chronologie der Vor- und Nachgeschichte sowie des Verlaufes des mitteldeutschen Bauernkrieges zu folgen.
Insgesamt über 3000 Figuren sind auf dem Panorama ausgeführt, doch als ob das noch nicht genügte, legt Fred Böhme seine Messlatte für aufmerksames Betrachten noch um einiges höher: „Nur wer den Dackel mit der Aufschrift Jule – das Tier war Hausgenosse des Malers – und das Schwein mit den Schaschlickstäben gefunden hat, darf sich einbilden, das Bild halbwegs gründlich angesehen zu haben.“
Tübke selbst findet sich übrigens mindestens noch einmal auf dem Panorama, und zwar in einer Pose geradezu Figur gewordenen Selbstbewusstseins, wie es für seine Selbstporträts nicht untypisch ist. Daneben, zu Pferde seine (dritte) Frau. Die entdeckt, wer zwar nicht Jule, aber zumindest den gelben Dackel (neben einem grünen Zwilling) gefunden hat, ebenfalls ein weiteres Mal, wie ein Vergleich mit dem Gemälde „Sizilianisches Familienbild in Marionettenkostümen“ unschwer erkennen lässt.
Auch das Konterfei von Tübkes Vater kurz vor dessen Tod, so verrät Fred Böhme, findet sich an zentraler Stelle des Panoramas …
Die Stunde mit dem Museumsführer verging wie im Fluge. Und wer ein Opern- oder Fernglas dabeihatte, konnte sich anschließend noch besonders intensiv weiteren Details zuwenden.
Nur knapp zwölf Kilometer von Bad Frankenhausen entfernt thront auf dem Kyffhäuser ebenso bombastisch wie martialisch Kaiser Wilhelm I. hoch zu Ross. Das 81 Meter hohe Denkmal verbrochen hat Bruno Schmitz, der auch für die vergleichbar geschmacklosen Wilhelm-Monumente am Deutschen Eck und an der Porta Westfalica sowie fürs Leipziger Völkerschlachtdenkmal den Hut aufhatte. Bei letzterem geht wenigstens der Erinnerungsgegenstand in Ordnung.
Auf dem Kyffhäuser erwacht bekanntlich zu Füßen des ersten Wilhelms Amtsvorgänger Barbarossa gerade aus 1000-jährigem Schlaf, um … ja was eigentlich zu tun? Nochmals auf dem Landwege zur Eroberung Jerusalems aufzubrechen und wieder vor Zielankunft in einem kleinasiatischen Flüsschen mangels Schwimmfähigkeit zu ersaufen? Allerdings: Wäre Ähnliches Wilhelm II. widerfahren, Europa und der Weltgeschichte wäre möglicherweise einiges erspart geblieben.

Das Panorama kann auch über eine virtuellen Rundgang im Internet besichtigt werden; zum Zugang hier klicken.