von Frank-Rainer Schurich
In der Erzählung „Noch ein Wunsch“ des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg gibt es den bedenkenswerten Satz, dass es für (bestimmte) wirkliche Sachen keine Beschreibung gibt, und die Wörter nicht gelten würden. Dann sind wir sozusagen sprachlos – eine alte Menschheitserfahrung. In ähnlichen Situationen waren unsere Vorfahren schon im 11. Jahrhundert, nur dass es damals im Althochdeutschen sprānolōs hieß. Es bedeutete aber wie heute, dass man entweder vor Erstaunen oder vor Entsetzen unfähig war zu sprechen.
Jeder, der den Fall Uwe Barschel aus den nicht allzu tiefen Kellern der Geschichte holt, wird unweigerlich von dieser Ambivalenz befallen. Erstaunen? Entsetzen? Was war passiert?
Am 11. Oktober 1987, vor über 30 Jahren, fand man im Zimmer 317 des Genfer Hotels „Beau-Rivage“ den ehemaligen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein Dr. Dr. Uwe Barschel mit schwersten Kopfverletzungen und vollständig bekleidet tot in der Badewanne. Jeder einigermaßen gut ausgebildete Kriminalist wäre sofort davon ausgegangen, dass es sich um Tod durch fremde Hand handelt. Also um Mord. Aber die bundesdeutschen Ermittler waren sich sehr schnell einig, dass es nur Selbstmord gewesen sein konnte. Die massiven Kopfverletzungen hin oder her. Der Tod von Barschel, in illegale Waffengeschäfte mit Südafrika und mit dem Iran unter Umgehung des Embargos eingebunden, sollte nach Willen der politisch und wirtschaftlich Mächtigen, vor allen Dingen innerhalb der CDU, ein großes Geheimnis bleiben, weshalb eben der „Freitod in Genf“ von Anfang an die lancierte Version war. Hintermänner in der bundesdeutschen Politik, Drahtzieher und andere Personen, die vom Treiben Barschels wussten, sollten außen vor bleiben. Und das waren einige.
Und so ist es verständlich, dass die Staatsanwaltschaft von Schleswig-Holstein wenig zielstrebig ermittelte und sich komplett verweigerte, ohne Ansehen der Person objektiv und unvoreingenommen in alle Richtungen zu ermitteln.
Den Schweizer Ermittlern wurde von einflussreichen deutschen Kreisen diese Selbstmordhypothese geradezu suggeriert. Vielleicht sogar auf Geheiß der deutschen Behörden gingen die Eidgenossen davon aus, dass Barschel ein unbedeutender deutscher Provinzpolitiker sei. Das wäre dann ein Grund für ihre fragwürdige Ermittlungsarbeit, wobei die Schweizer offenbar auch fachlich völlig überfordert waren. So stellt sich uns der Fall Uwe Barschel als die größte Vertuschungsaktion in der Kriminalgeschichte nach 1945 dar. Es wurde von amtlicher Seite gelogen, verschwiegen, zurückgehalten, abgestritten.
Zum Beispiel bei den Geheimdiensten. Der BND hatte angeblich nicht einmal eine Akte über Barschel, der CIA winkte ebenfalls ab, und die Gauck-Behörde hielt jede Menge Akten zurück. Oberstaatsanwalt Heinrich Wille, betraut mit dem Fall, erwirkte einen Durchsuchungsbeschluss und marschierte in Berlin mit einem Kommando an, um an die Akten zu kommen. Aber letztlich knickte man vor der selbst ernannten Ikone Joachim Gauck ein. Warum?
Eine Antwort kann mit schwedischer Hilfe gegeben werden. 1971 erschien in Göttingen die deutsche Ausgabe des Buches „Der Realitätsgehalt von Zeugenaussagen. Methoden der Aussagepsychologie“ vom anerkannten schwedischen Psychologen Arne Trankell. (Seine bahnbrechenden Erkenntnisse wurden übrigens in der Hochschul-Kriminalistik der DDR gelehrt.) Das von Trankell entwickelte Konsequenzkriterium geht vom motivischen Hintergrund der Behauptungen aus und bildet daraus Schlussfolgerungen, die im Fall Barschel wie folgt lauten: Wenn das MfS Barschel umgebracht hätte (was ja lautstark in der Presse vermutet wurde, weil es hervorragend in die politische Landschaft passte), hätten Gauck und sein damaliger Stellvertreter Geiger, später Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des BND, mit Freude und Genugtuung alle Unterlagen zur Verfügung gestellt. Warum haben sie also Schriftstücke zurückgehalten? Weil sich Hinweise, wenn nicht gar Beweise in den Akten fanden, die die Selbstmordthese erschüttern konnten – indes nicht mit dem Täter „Stasi“.
Unter diesen ganzen Umständen wirkt es schon heuchlerisch, dass das Bundeskanzleramt in einem Brief an Wille vom 21. August 1997 versichert, die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) habe ein nachhaltiges Interesse an der Aufklärung der Umstände des Todes von Dr. Dr. Barschel. Da ist die Frage zu stellen, warum nicht von Anfang an der Generalbundesanwalt und das BKA die Ermittlungen an sich gezogen haben, warum die Justiz diesen brisanten Fall unerfahrenen Schweizern oder einer Handvoll norddeutscher Staatsanwälte überlassen hat?
Wolfram Baentsch hatte schon 2006 ein großartiges Buch über das Justizversagen veröffentlicht: „Der Doppelmord an Uwe Barschel“. Darin wird auch auf die unstrittige Spurenlage eingegangen. Ein großflächige Hämatom unter dem Haupthaar von Uwe Barschel, dass die Gerichtsmediziner bei der zweiten Obduktion mit „Entsetzen“ erfüllt hatte, massive Verletzungen im Gesicht des Opfers, Spuren eines Schlauches, mit dem Barschel toxische Medikamente intubiert werden konnten. Intubiert?
In einem 1994 erschienenen Buch des Ex-Mossad-Agenten Victor Ostrovsky ist der Mord an Uwe Barschel genau beschrieben worden, wobei sich die oben angeführten Spuren exakt mit den Schilderungen Ostrovskys decken. Auch wurde die wichtigste Behauptung Ostrovskys, dass es sich um Mord handele, durch das Obduktionsergebnis belegt: Medikamentenreste fanden sich zwar im Magen Barschels, nicht aber in der Speiseröhre – unmöglich bei der Selbsteinnahme von Medikamenten.
Der renommierte Züricher Toxikologe Hans Brandenberger schrieb dazu 2010 in einem Beitrag für die Welt am Sonntag, dass der Abgleich der chemischen Analysedaten seines 1994 erstellten Gutachtens mit den Angaben zum Ablauf des Barschel-Todes, wie ihn der ehemalige Mossad-Agent Victor Ostrovsky in seinem Buch „Geheimakte Mossad“ schildert, bis in Details hinein übereinstimmen. Brandenberger erstattete seine Gutachten im Auftrag der Familie Barschels völlig unabhängig, die wohl auch deshalb nicht in die offiziellen Ermittlungen eingehen durften. Ostrovsky hatte sich zwar als Zeuge zur Verfügung gestellt, aber die deutsche Justiz war an seinen Aussagen nicht interessiert …
Mit einem im April 1998 vorgelegten Gesamtbericht schließt die Staatsanwaltschaft Lübeck die Ermittlungsakten, ohne den Mordverdacht belegt zu haben und ohne Selbstmord sicher auszuschließen. Wie wir bei Baentsch lesen, werden neue Hinweise von der Staatsanwaltschaft in Lübeck nur noch zur Kenntnis genommen: „Ermittlungsaktivitäten löst nicht einmal mehr ein Bekennerschreiben aus, das die Witwe Freya Barschel Anfang 2003 erreicht: Ein Berufsverbrecher bezichtigt sich, unter den rund 200 von ihm ausgeführten Auftragsmorden auch den Mord an Uwe Barschel begangen zu haben.“ Ob die angeblich neu aufgetauchten Indizien, DNA-Rückstände einer fremden Person an Barschels Kleidung, Licht in die damaligen zweifellos dunklen Machenschaften bringen, ist also zu bezweifeln.
Übrigens hatte sich auch Heinrich Wille, der 1992 Leiter der Lübecker Staatsanwaltschaft wurde, in einem 2011 erschienenen Buch mit dem Fall befasst: „Ein Mord, der keiner sein durfte“. Er betont im Untertitel zwar die Grenzen des Rechtsstaates, verschweigt aber wesentliche Ermittlungsergebnisse.
Für den viel gepriesenen Rechtsstaat erweist sich der Barschel-Fall als Katastrophe im System. Denn jeder kann sich doch vorstellen, dass in einem Staat, in dem selbst die harmlose Arbeitslosenstatistik, für die man nur die vier Grundrechenarten beherrschen muss, gefälscht wird, in einem politisch brisanten Fall noch ganz andere Verschleierungs- und Vertuschungstaktiken von höchster Stelle zur Anwendung gelangen. Wahrheit ist das, was politisch gewollt ist. Damit wird aber das Strafverfahren selbst grundsätzlich in Frage gestellt, jede Aufklärung vereitelt.
Sprānolōs? Erstaunen? Entsetzen? Aufschrei? Das reicht heute schon lange nicht mehr, nicht nur die Worte müssen wieder etwas gelten. Man muss etwas tun. Denn je weiter sich mit der Zeit der Fall Barschel in der Vergangenheit verliert, umso aktueller wird er.
Schlagwörter: BND, Frank-Rainer Schurich, Mordverdacht, Staatsanwaltschaft, Uwe Barschel, Vertuschung