22. Jahrgang | Nummer 13 | 24. Juni 2019

Auf der Wolga

von Renate Hoffmann

Zwei Schriftsteller weckten den Gedanken. Nikolai Karamsin (1766–1826): „… Wag’ ich es, zu singen, o Mutter Fluss? / Wie du stets schöner wurdest im Strom. / Im Gold des sauberen Sandes, / du trägst die Erde des Segens, / auf deinem silbernen Kamm, / überall schenkst du Freigiebigkeit aus, / überall bereicherst du das Land / auf deinem glänzenden Weg …“ (aus dem Poem „Wolga“). Und Michail Sostschenko (1894–1958) mit der Satire „Ein Vorfall auf der Wolga“.
„In den ersten Jahren nach der Revolution machte eine Gruppe erholungsuchender Bürger Urlaub auf der Wolga …“ Der Dampfer hieß „Genosse Penkin“. Auf die Frage, wer Penkin sei, hieß es, er gehöre wohl zur Flussschifffahrtsverwaltung. In Samara Stadtbesichtigung. Nach der Rückkehr am Kai – große Aufregung. Die „Penkin“ ist weg. Aber sie war nicht weg. Man hatte sie nur in aller Eile umbenannt. Sie hieß jetzt „Gewitter“. Warum? „Genosse Penkin war teilweise nicht auf der Höhe der Situation. Gegenwärtig steht er vor Gericht. Wegen Machtmissbrauch.“ – Stadtrundgang in Saratow. Nach Ankunft am Hafen – erneute Aufregung, die aber nicht mehr so heftig ausfiel – die „Gewitter“ war verschwunden. Das Schiff hieß jetzt „Korolenko“. Warum“? „Gewitter“ sei prinzipienlos. Deshalb heißt der Dampfer ab Saratow „Korolenko“. Bleibt der Name? Ja! Denn Korolenko ist ein großer Dichter. Außerdem lebt er nicht mehr.
Europas längster, wasserreichster Fluss. Vom Plätscherbach in den Waldaihöhen bis zum Mündungsdelta am Kaspischen Meer – nun ein mächtiger Strom – misst er 3.530 Kilometer. Und er ist weiblich! – Die Wolga nimmt auf ihrem langen Weg zwölf Nebenflüsse auf, durchläuft acht Stauseen, zwängt die Schiffe durch viele Schleusen und gibt an ihren Ufern großen Städten Raum (davon vier in Millionenstärke), kleinen Dörfern – und Anglern.
Das Schiff fährt stromaufwärts. Es erreicht an einem strahlenden Morgen, vom Wolga-Don-Kanal kommend, das „Mütterchen Wolga“. Von den breiten Ufern grüßt Russlands größtes Lenin-Monument. Die Randbezirke von WOLGOGRAD (Stalingrad) kündigen sich an. Unterbrochen von Ausblicken über die Weite des Stroms in die Weite der Landschaft.
Die geschundene Stadt, von der nichts übrigblieb als die gespenstische Ruine einer Getreidemühle. Als Mahnmal. Und die sich wiederaufrichtete. Altes mit Geschichtsbewusstsein neu erstehen ließ; Neues mit dem Gespür für die Moderne einfügte. Die Stadt, in der sich unter unsäglichen Opfern die Wende des Zweiten Weltkrieges abzeichnete.
Ich gehe die breite Treppe zum Mamajew-Hügel hinauf, um den in der Schlacht von Stalingrad die schwersten Kämpfe tobten. Die Gedenkstätte, ein Ort der Würde und gegen das Vergessen. Doch auch Hoffnung verheißend – mit der leisen Melodie von Robert Schumanns „Träumerei“. Betroffenheit und Trauer. Ein Herr spricht mich an. Ich sage nur, dass ich mich schäme. „Das brauchen sie nicht“, antwortet er, „Sie gehören nicht zu der Generation, die das zu verantworten hat.“ – Der Abend auf dem ruhig fließenden Strom vergeht in Nachdenklichkeit. Vom Wasser steigt Kühle auf.
Der frühe Tag zeigt sein Morgengesicht. Am rechten Ufer steht unbeweglich ein Seidenreiher; weder Möwen, Wildenten noch der Rhythmus kleiner Wellen stören ihn. Das linke Ufer ist Sinnbild der Weite. Wie mit dünner Feder gezogen trennt es Himmel und Erde. – Meeresgleiche Fahrten über die Stauseen. Die Wolga dehnt sich und zieht sich zusammen. Sie atmet. Das Land schwingt sich zu Hügeln auf oder bricht in gelben Steilhängen ab.
Dörfer ziehen vorüber, Kapellen mit goldenen und blauen Kuppeln. Und Städte. SARATOW. Quicklebendige Stadt. Mit ihrem „Stadtheiligen“ Juri Gagarin. Hochhäuser, Fabrikgebäude; sichtbare Spuren der Wolgadeutschen, breite Boulevards und die elegante Brücke über den Fluss. Die Weite des Landes findet sich in der Breite der Städte wieder.
Kreuzfahrtschiffe begegnen uns. Sie tragen die Namen von Alexei Tolstoi, Anton Tschechow, auch von Wladimir Korolenko (ich denke an den „Vorfall auf der Wolga“).
Der Abendspaziergang am Hochufer von SAMARA, der Industrie- und Millionenstadt, hat etwas Unwirkliches. Die regennassen Straßen und Plätze doppeln den nächtlichen Lichterglanz. Auf der Wolga ziehen bunterleuchtete Schiffe wie Traumbilder vorbei. In der Nähe der Oper, mit verstecktem Eingang und 37 Meter unter der Erde: Das Bunker-Museum. Notquartier für Stalin und die oberste Sowjetführung. Bedrückender Gang durch die Räume. Unweit von hier gehe ich an einem Haus vorbei, in dem Dmitri Schostakowitsch 1941 die 7. Sinfonie („Leningrader Sinfonie“) vollendete. Sie wurde am 5. März 1942 in Samara (damals Kuibyschew) uraufgeführt. „Ich widme meine Siebente Sinfonie unserem Kampf gegen den Faschismus … und Leningrad, meiner Heimatstadt …“
Der Fluss ist verhangen und melancholisch. Seine Wasserfläche ruht grau und bleiern und stumm. Nach dem Verebben der Heckwelle schließt sie sich wieder als wäre nichts gewesen. – ULJANOWSK und Lenin ohne Ende. In einer Parkanlage hat man Nikolai Karamsin ein Denkmal gewidmet. Seinen Ruhm, der auch ein bedeutender Historiker war, verkündet die Muse Klio. Ein außergewöhnliches Monument, welches mit dem Schriftsteller in Verbindung gebracht wird, steht vor der Wissenschaftlichen Bezirks-Bibliothek. Der Gedenkstein für einen Buchstaben. Das „ё“, in rotem Granit. Karamsin verwendete es im Jahr 1797 in seinen Werken als Ersatz für das bis dahin gebräuchliche „jo“. Und es fand als siebenter Buchstabe Aufnahme im russischen Alphabet.
Heute sieht sie missmutig aus, die Wolga. Kleine boshafte Wellen schlagen gegen das Schiff. In den Mulden der zerklüfteten Hänge liegt noch Schnee. – KASAN, die Stolze. Hauptstadt der Republik Tatarstan und Zentrum von Kultur, Bildung und Wissenschaft. Hochachtung verdient sie vorrangig für das gelebte Miteinander der großen Religionen Christentum und Islam. Die Kul-Scharif-Moschee, ein Bauwerk wie aus Tausend-und-einer-Nacht und die Mariä-Verkündigungs-Kathedrale stehen in gegenseitigem Respekt nebeneinander.
Nun sind die Morgen voller Sommer. Die Abende legen Tücher in feinen Pastellfarben über das Wasser. Die untergehende Sonne ist eine Apfelsine. Der Mond ein gelber Apfel, links ein wenig eingedellt. Wechsel von Weite und Nähe; von einsamem Ufergelände und Betriebsamkeit. Flusshäfen, Krane, Bagger, beladene Boote, belebte Promenaden.
NISCHNI-NOWGOROD, die Majestätische. Geburtsort Maxim Gorkis; Handel und Wandel. Klöster und Kirchen. Die Mariä-Geburt-Kathedrale schiebt sich ob ihrer Buntheit in den Vordergrund. Die fünf Kuppeln erwecken den Eindruck als seien sie mit mehrfarbigen Bändern und Juwelen bestückt. – Das Kreml-Gelände in der Oberstadt gewährt eine wunderbare Ausschau auf den Fluss, seine verstreuten Inseln und das Hinterland, das sich in der Ferne verliert. Es ist der Blick auf die Weiten Russlands, den ich nicht vergessen werde.
Die Handelsreihen in KOSTROMA, historisch, architektonisch, ökonomisch sind eine Besonderheit, in der man gern bummelt, kauft oder nicht kauft und sich am bunten Angebot der Waren erfreut. Eine großzügig angelegt Stadt, die auf beiden Ufern der Wolga siedelt. Prachtbauten um den Susanin-Platz, der sieben Straßen entlässt. Wunderwerke der Malerei findet man in der Dreifaltigkeits-Kathedrale im Ipatjew Kloster. Fresken, die Wände, Säulen und Deckengewölbe überziehen. Sie leuchten wie am ersten Tag ihrer Entstehung im Jahr 1685. Denkmäler in Grünflächen und an verkehrsreichen Straßen. Eines für Lenin, wie gewohnt, eines für Katzen, ungewohnt. Sie klagen den Verkehr an, der ihr Leben bedroht.
Himmel und Wasser begegnen sich. Feiner Dunst filtert das Morgenlicht. Die Ufer geben ihr Spiegelbild in den Fluss. Volltönendes Glockengeläut. Es ist Sonntag. JAROSLAWL, die Tausendjährige. Handelsstadt mit altem Kulturgut. Ihr Innenbereich gehört zum Weltkulturerbe. Die Prophet-Elias-Kirche ist eine ihrer baulichen Schönheiten. Eindringliche Bildersprache der Fresken und eine kunstvoll gestaltete Ikonenwand lassen staunen. Mönche singen festliche Lieder. Die Töne stehen wie Klangsäulen im hohen Raum. – Abschied.
Bei Dubna verlässt das Schiff den vielgestaltigen Strom, biegt in den Moskau-Wolga-Kanal ein und steuert die russische Hauptstadt an.