22. Jahrgang | Nummer 5 | 4. März 2019

Erinnerung, Gedenken:
Bruno Ganz und Lorenzo da Ponte

von Reinhard Wengierek

Er machte sich rar in der Öffentlichkeit und tat sich schwer mit Interviews und Journalisten; aber auch mit seinem Beruf („Es gibt Kollegen, die sich nicht so mühen müssen wie ich.“). Doch dann gab‘s, es ist schon ein paar Jahre her, doch noch einen vom Management streng begrenzten Gesprächstermin im Berliner Domizil, einer Charlottenburger Altbauwohnung. In einem weiten, sonnendurchfluteten, spartanisch eingerichteten Zimmer saßen wir uns gegenüber an einem großen leeren Tisch: hier, zunächst etwas ungnädig, der Star, da der neugierige Schreiberling. Und in der Mitte das Mikrofon…
Bruno Ganz über Theater: Ich spiele dort, wo es spannende Angebote gibt von einem mir wichtigen Regisseur, Klaus Michael Grüber zum Beispiel. Es geht mir um den Regisseur und um das Stück, in dieser Reihenfolge; der Ort ist mir gleichgültig. Schon damals an der Schaubühne in ihrem Hochglanz fühlte ich mich eingeklemmt, suchte nach Regisseuren – und träumte vom Kino. Da gab es Wenders, Rohmer, Hauff, Herzog, Bertolucci, Schlöndorff…
B.G. über Brecht: Seine Welterklärungsmodelle haben mich nie sonderlich interessiert. Dafür ist die Welt viel zu kompliziert. An Brecht bewundere ich seinen unglaublichen Scharfsinn. Und ein paar Gedichte.
B.G. über das, was ihm als Schauspieler wichtig ist: Etwas Wahrhaftiges, Wesentliches vom Dasein ausdrücken und so sich auf besondere Weise vervielfältigen. Dass ich Kunst machen muss, wusste ich sehr früh. Doch mit Malen oder Schreiben ging es bei mir nicht. Mich blockieren die leeren Flächen Papiers. Aber schon als Halbstarker begriff ich, dass ich Schauspieler sein kann. Sein muss.
B.G. über die Titelrolle in Peter Steins 22-Stunden-Monumentalinszenierung von „Faust eins und zwei“ (12.111 Verse): Monatelang lernen und fast täglich acht Stunden probieren – ich gelangte gar nicht zu mir selbst. Anders als früher beim Arbeiten mit Stein kam ich diesmal mit meiner Phantasie nicht zum Zug. Sie war wie verschüttet mit Tonnen von Text. Es gab keine Gespräche über das geistesgeschichtliche Produkt, darüber, was im Kopf Goethes vorgegangen sein mag beim Schreiben. Ich empfand mich nicht als einer, der in den Dichter hinein horcht, sondern als einer, der etwas durchpeitscht, exekutiert. Auch hatte ich gedacht, dass der Faust mit seinem Schicksal mir nahe kommen, mein Herz bewegen würde. Doch er blieb auf seiner abstrakten Höhe.
Bruno Ganz wurde als Sohn einer Arbeiterfamilie 1941 bei Zürich geboren. Er schmiss das Gymnasium und ging nach Zürich an eine Schauspielschule. In den 60er Jahren war er am Bremer Theater in einem Ensemble epochalen künstlerischen Aufbruchs um Peter Zadek; in der 70er Jahren an der alsbald weltberühmt werdenden Schaubühne am Halleschen Ufer bei Grüber und Stein. Von 1975 an drehte er Filme (als philosophierender Engel Daniel in Wim Wenders‘ „Himmel über Berlin“). Mitte der 80er Jahre Rückkehr an die längst legendäre Schaubühne. Seither große Rollen mit den wichtigsten Regisseuren an den wichtigsten Bühnen im deutschsprachigen Raum. Bruno Ganz gelang Seltenes; nämlich die Verehrung von Theater- wie Filmpublikum gleichermaßen. Vor zwei Jahren wurde der tief-, oder auch abgründige Charakterdarsteller auf der Berlinale gefeiert für seine Hauptrolle als gebrechlich grantiger, sperriger, erschütternd widersprüchlicher Altkommunist Poweleit in der Verfilmung des Eugen-Ruge-Romans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“.
„Ich gehe und lebe, bis meine Seele müde ist“, sagte der zuweilen schwer melancholische, meist sarkastisch spröde, dann wieder überraschend witzige, liebenswürdige Theater- und Filmstar. Er starb Mitte Februar schwerkrank in seiner Heimatstadt Zürich.

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Seltsam, über die wohl genialste künstlerische Kooperation der westlichen Kunst- und Kulturgeschichte ist so gut wie nichts überliefert, was auch nur einigermaßen aussagekräftig sein könnte: Die Rede ist von den drei „Da-Ponte-Opern“ Mozarts, womit der Librettist Lorenzo da Ponte und der Komponist Wolfgang Amadeus Mozart nicht nur drei Wunderwerke an Schmerz und Schönheit schufen, sondern noch den Grundstein legten für die Entwicklung der modernen psychologischen Oper; oder auch: für das Musiktheater überhaupt. Im Individuellen Allgemeinmenschliches auf ewig gültig zu komprimieren; die Welt in der Nussschale, in einer Story die ganze Welt – das gelang beiden Autoren mit der „Hochzeit des Figaro“, „Don Giovanni“ und „Cosi fan tutte“ beispiellos. Die Figuren dieser archetypischen Werke sind durch Vieldeutigkeit, ihre geradezu unauslotbare Tiefe wie auch ihre Abgründigkeit bis heute und gewiss für alle Zeiten eine grenzenlose Herausforderung für Interpreten.
Was für ein einzigartiger Glücksfall: drei Meisterwerke der Weltkunst von einem Autorendoppel quasi auf einen Schlag. Dabei bleibt im Dunkel, wie es dazu kam. Was Mozart so dahingeplaudert hat, sagt kaum Triftiges über seinen Librettisten, höchstens, dass er den nicht schlecht fand, also ziemlich gut. Als Kaiser Josef II. sich skeptisch über „Giovanni“ äußerte – „kein Bissen für meine Wiener“ –, entgegnete Mozart kühl: „Lasst ihnen nur Zeit, ihn zu kosten. Die große Kunst ist im allgemeinen zu hoch für die Menge, sie bedarf zuweilen eines oder zweier Jahrhunderte, um jene Jury des Geistes zu bilden, welche endlich mit Kenntnis der Sache ohne Appellation an die Nachwelt entscheidet.“
Es dauerte keine Jahrhunderte. Die elitäre Jury, aber auch das Publikum hatte bald begriffen. Und Mozarts selbstbewusstes Statement als Komponist schloss immerhin sehr viel mehr ein als die bloß gönnerhafte Verehrung Lorenzo da Pontes.
Erstaunlich bleibt, dass der hoch gebildete und vieles schreibende da Ponte es beim Verfassen von Operntexten (auch für andere Komponisten) beließ, sich aber nicht als Dramatiker fürs Schauspiel versuchte. Es hatte seinen Grund: „Sie wissen doch, bis zu welcher Stufe der Erniedrigung die dramatische Kunst in unserm Vaterlande ist und welcher Mut gehört, sich ihr vollständig zu widmen.“ – Da fehlte ihm also der Mumm. Dass ihm allein sein Mozart-Dreier singulären Nachruhm für immer einbringen würde, konnte er nicht wissen, auch kaum ahnen. So ist sein Verzicht aufs Sprechtheater allein der Verzweiflung über diese Branche geschuldet und nicht der eitlen Meinung, seine drei genialen Libretti seien genug der Göttergeschenke an die Welt.
Geboren wurde Emanuele Conegliano vor 270 Jahren am 10. März 1749 in der norditalienischen Kleinstadt Vittorio Vineto als Sohn eines jüdischen Lederhändlers, der, um als Witwer eine zweite Frau zu heiraten, katholisch wurde. Emanuele nahm später den Namen Lorenzo da Ponte an nach dem Kloster, wo er getauft wurde. Er machte Karriere im Priesterseminar, wurde geweiht und kam alsbald zu der ketzerischen Meinung, „dass die Zivilisation weder durch die Kirche noch den Staat vorangebracht werden könne“. Er türmte, wurde in Treviso Professor für Literatur und bald politisch unliebsam, floh nach Venedig, wo er sich sexuell austobte, sich dabei in ein Mordkomplott verwickelte und vor dem Urteil (15 Jahre Verbannung) via Dresden nach Wien flüchtete – in die Opernszene. Der eine Kaiser protegierte ihn, sein Nachfolger, besagter Joseph II., hasste ihn. Er ging nach Triest, heiratete, bekam Kinder, wurde in London  Impresario vom King’s Theatre, veruntreute Gelder, floh nach Amerika, wo er sich als Geschaftlhuber unglücklich durchschlug.
1811 in New York schrieb er seine später als unseriös und aufschneiderisch geltenden Memoiren, förderte die Oper, sorgte für die erste dortige Opernaufführung anno 1825. Das Operngeschäft ging pleite, sein daraufhin betriebener Buchladen ebenfalls. 1838 starb er in New York verarmt und zurückgezogen, doch die öffentliche Teilnahme war groß und der Trauerzug hinterm Sarg erstaunlich lang, aber das aufwändig geplante Denkmal überm Grab kam nicht. Es bleibt – wie das von Mozart – unauffindbar und soll irgendwo unter der 11. Street liegen, wo sich einst ein katholischer Friedhof befand.
Was für ein Lebenslauf! Ein 89 Jahre währendes Auf und Ab. Was für ein aufregendes Abenteuer rund um die halbe Welt auf großen Höhen und in elenden Tiefen. Die Nachwelt nimmt es, wie immer in solchen Fällen, irritiert zur Kenntnis. Diversen Biografen, die sich an diesem Lebensroman versuchten, gilt er als skrupelloses Charakterschwein und abgebrühter Opportunist, als Krimineller und Frauenverbraucher – und zugleich als bewundernswürdige Geistesgröße und ingeniös egomanischer Malocher. Was kein Urteilender ihm nimmt, bringt Wolfgang Hildesheimer nüchtern auf den Punkt: „Er war Mozarts bester, oder besser gesagt, Mozarts einzig guter Textdichter.“
Spielen wir nun, zur Feier seines 270. Geburtstags am 10. März, die gleich einem nervösen Glücksjäger dahin rauschende „Figaro“-Ouvertüre oder die verführerische Champagner-Arie des Giovanni, dem trotzig frechen Chef aller Lebemänner?