22. Jahrgang | Sonderausgabe | 25. Februar 2019

Turgenjews große Liebe

von Mathias Iven

Sankt Petersburg, 1. November 1843. An diesem Mittwoch wird die neue Opernsaison eröffnet. Auf den Programmzetteln findet sich der Name einer bisher unbekannten Künstlerin: Pauline Viardot-García. Wer ist sie? Woher kommt sie? Es ist kaum etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Doch überall soll sie Triumphe feiern wie einst ihre Schwester, die berühmte, mit 28 Jahren verstorbene María Malibran. Nur einmal, im August 1836, standen die beiden gemeinsam auf der Bühne. Bei einem Konzert in Lüttich wurde „La Malibran“ von ihrer 15 Jahre jüngeren Schwester Pauline auf dem Klavier begleitet.
Schon früh erhielt die 1821 in Paris geborene Pauline Klavier- und Kompositionsunterricht. Sie ist überdurchschnittlich begabt, und man prophezeit ihr eine glänzende Zukunft. Mit elf Jahren gibt sie ihr erstes öffentliches Konzert. Nach dem frühen Tod der Schwester, die als erste Operndiva in die Geschichte eingeht, sah die Welt jedoch anders aus. Die Mutter entscheidet: Pauline soll die sängerische Tradition der Familie fortführen – eine Karriere als Pianistin oder gar als Komponistin muss sie sich aus dem Kopf schlagen. Am 13. Dezember 1837 gibt sie im Brüsseler Hôtel de Ville ihr erstes Konzert als Sängerin, am Klavier sitzt der Mann ihrer verstorbenen Schwester María.
Es folgen Auftritte in ganz Europa. 1843 reist sie nach Russland. Bei ihrem ersten Auftritt in Sankt Petersburg wird sie stürmisch gefeiert. Zu den Gästen gehört auch Iwan Turgenjew. Der Abend wird für ihn zu einem unvergesslichen Erlebnis. Nach der Vorstellung werden die beiden einander vorgestellt. Turgenjew hinterlässt bei Pauline keinen besonderen Eindruck. „Als er den Raum betrat, schien er mir wie ein Riese“, wird sie sich später erinnern. „Ich habe ihm lange Zeit gar keine Aufmerksamkeit geschenkt.“ Und umgekehrt? Sieben Jahre nach ihrer ersten Begegnung schreibt Turgenjew ihr: „Ihnen auf meinem Weg zu begegnen war das größte Glück meines Lebens. Meine Ergebenheit, Dankbarkeit und Verbundenheit Ihnen gegenüber sind grenzenlos und werden erst gemeinsam mit mir sterben.“ Am 1. November 1843, dem „bedeutsamsten Tag“ in Turgenjews Lebens, begann eine vierzig Jahre währende Liebesgeschichte.
Doch wie sollte es weitergehen? Pauline war eine verheiratete Frau. 1840 ging sie die Ehe mit dem 21 Jahre älteren Louis Viardot ein, 1841 kam ihr erstes Kind zur Welt. Viardot, Direktor des Théâtre Italien und ehemaliger Vertrauter und Berater von Paulines Schwester María, zeigt großes Verständnis für diese komplizierte Situation. Er billigt nicht nur die Verbindung seiner Frau zu dem russischen Schriftsteller, er ist Turgenjew gleichfalls freundschaftlich verbunden. Beide sind leidenschaftliche Jäger, arbeiten zusammen an Übersetzungen und verbringen viel Zeit miteinander. Man wohnt unter einem Dach, Turgenjew gehört mehr und mehr zur Familie. Er bleibt unverheiratet. „Stets“, so kommentieren es die Autorinnen, „zieht er sich zurück und kehrt in das ,fremde Nest‘ der Viardots zurück. Pauline scheint für ihn das überhöhte Ideal einer Frau zu sein.“
Nach vier Jahrzehnten endet eine der berührendsten Dreiecksbeziehungen der Weltliteratur. Im Mai 1883 stirbt Louis Viardot, vier Monate später liegt Turgenjew im Sterben. Seine letzten Worte sind an Pauline gerichtet: „Sie ist die Königin der Königinnen, wie viel Gutes hat sie getan!“ Er vermacht ihr sein gesamtes Vermögen und die Rechte an seinen Werken. Schon bald nach seinem Tod muss sie Angriffen der russischen Presse entgegentreten, die ihre Beziehung zu ihm betreffen. „Wenn der Name Turgenjew den Russen etwas wert ist, so kann ich voller Stolz sagen, dass es seine Person keineswegs entehrt, wenn der Name Viardot mit dem seinen zusammen genannt wird.“ Erst langsam begreift Pauline Viardot die Tragweite ihres Verlustes. Die Trauer überwältigt sie: „Es ist zu viel Schmerz auf einmal für ein einziges Herz!“ Bis an ihr Lebensende wird sie ihre Briefe auf schwarz gerändertem Papier schreiben.
Obwohl sie zunehmend schlechter sieht und hört, unterrichtet sie und gibt Konzerte. Am 18. Mai 1910 stirbt Pauline Viardot in Paris. Ihr Tod wird in der französischen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Anders sieht es in Turgenjews Heimat aus. In einem in der Russkaja musikalnaja gaseta veröffentlichten Nachruf heißt es unter anderem: „Der russischen Gesellschaft wird sie stets als die den großen Schriftsteller Iwan Turgenjew liebende Frau im Gedächtnis bleiben, die ihm verbunden und treu war, ihn inspirierte und vor der Einsamkeit bewahrte“.
Bis heute wirft das ungewöhnliche Arrangement zwischen Turgenjew und den Viardots Fragen auf und bietet Anlass zu Spekulationen. Da nur wenige schriftliche Zeugnisse Auskunft über ihre Beziehung geben und lediglich die Briefe Turgenjews an die Musikerin erhalten sind, lässt sich nur ein unvollständiges Bild dieser lebenslangen Gemeinschaft zeichnen. Dementsprechend gestehen die Autorinnen ein: „Ganz in Turgenjews Sinn kann es heute daher lediglich um die Beschreibung dessen, was wir wissen, gehen, wenn man sich nicht in Mutmaßungen ergehen will.“
Das Autoren-Duo Ursula Keller und Natalja Sharandak, das zuletzt mit einer sehr eindrucksvollen Biographie von Madame Blavatsky auf sich aufmerksam gemacht hat , erzählt nicht nur die Geschichte einer großen Liebe. Ihre Doppelbiographie beschreibt zugleich das Leben zweier großer europäischer Künstlerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts.

Ursula Keller / Natalja Sharandak: Iwan Turgenjew und Pauline Viardot. Eine außergewöhnliche Liebe, Insel Verlag, Berlin 2018, 278 Seiten, 25,00 Euro.