von Mathias Iven
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann in Europa die Zeit der großen Umwälzungen. Immer mehr Menschen zogen in die Städte, die industrielle Produktion wurde ausgeweitet, tradierte Lebensformen kamen ins Wanken. Zugleich trat ein ideengeschichtliches Vakuum zu Tage. Zahlreiche, dem technischen Fortschritt skeptisch gegenüberstehende Zeitgenossen sahen sich in einer geistig-moralischen Krise und hielten nach neuen Ideen Ausschau. Einen Ausweg schien die moderne Theosophie zu bieten. Hier wurde der Versuch unternommen, die Erkenntnisse der Wissenschaften mit den verschiedenen religiösen Traditionen unter Einbeziehung des in dieser Zeit populären Okkultismus zu vereinen. Propagiert wurde diese Weltanschauung von der 1831 in Russland geborenen Helena Petrowna Blavatsky, die sich schon früh dazu auserwählt sah, „die Menschheit [zu] beschenken und sie von ihren geistigen Fesseln [zu] befreien“. Späteren Anfeindungen zum Trotz war es ihr lebenslanges Ziel, „alle Religionen, Glaubensbekenntnisse und Nationen durch ein auf ewigen Wahrheiten beruhendes System einer allgemeinen Ethik miteinander zu versöhnen“.
Bis heute liegt vieles von Blavatskys Biographie im Dunkeln. Sie selbst gestand, „zwischen 17 und 40 verwischte ich alle Spuren meiner Reisen“. Und so sind es vor allem die Stationen und Geschehnisse der Jahre zwischen 1849 und 1858 sowie das Jahrzehnt zwischen 1863 und 1873, die immer wieder Rätsel aufgeben. Noch zu ihren Lebzeiten erschien 1886 die erste Biographie, an der Helena Blavatsky als eine unliebsame, Themen aussparende Co-Autorin mitgeschrieben hatte. Die seither vorgelegten Darstellungen waren zumeist durch die Haltung der Verfasser geprägt, die sich Blavatskys Ideen gegenüber entweder pro oder contra positionierten. Es verwundert daher nicht, dass in den Beschreibungen ihres Lebens bis heute Dichtung und Wahrheit so eng beieinander liegen, Gerüchte kursieren und vieles verklärt wird. Um so erfreulicher, dass die Autorinnen der jetzt vorliegenden ersten deutschsprachigen Biographie durchaus noch neue Details präsentieren können und das allein durch die Gegenüberstellung der sich oftmals widersprechenden Quellen.
Schon die Mutter, eine der ersten professionellen Schriftstellerinnen Russlands, hatte kurz vor ihrem Tod prophezeit: „Ich weiß ganz sicher, dass ihr kein weibliches Schicksal beschieden ist, und dass sie viel zu leiden haben wird.“ Selbst Blavatskys weitläufige Familie sollte ihrem späteren Treiben durchaus ablehnend gegenüber stehen. „Wäre ich eine gewöhnliche Dirne gewesen“, erklärte sie in den 1880er Jahren, „so wäre meinen Anverwandten dies lieber gewesen als die Tatsache, dass ich mich dem Studium des Okkultismus gewidmet habe.“
1873 kehrte Blavatsky Russland den Rücken und sollte nie wieder in ihre Heimat zurückkehren. Über Paris führte sie ihr Weg nach New York. Dort kam es, von Blavatsky initiiert, Ende 1875 zur Gründung der Theosophischen Gesellschaft. Erklärter Zweck dieser Vereinigung war die „Sammlung und Verbreitung von Wissen über die Gesetze, welche das Universum lenken“. In ihrer Satzung distanzierte sie sich von „allgemeingültigen Dogmen“. Einziger Grundsatz sollte die „Omnipotenz der Wahrheit“ sein, „einziges Glaubensbekenntnis deren Entdeckung und Verbreitung“. Für eine Mitgliedschaft spielten „weder Rasse noch Geschlecht oder Hautfarbe, Staatsangehörigkeit oder Glaubensbekenntnis eine Rolle“. Mit solcherart Programm sahen sich die Anhänger von Blavatskys Lehre schnell der öffentlichen Kritik ausgesetzt – was dazu führte, dass man bereits im Jahr darauf zu einer „Geheimgesellschaft“ konvertierte.
Im September 1877 veröffentlichte Blavatsky die theoretische Grundlegung ihrer Lehre: „Isis entschleiert. Ein Meisterschlüssel zu den Geheimnissen alter und neuer Wissenschaften und Theologie“. Das mehr als tausend Seiten umfassende, zweibändige Grundlagenwerk der Theosophie war eine einzigartige Synthese des Okkultismus des Westens mit dem Mystizismus des Ostens. Zugleich rebellierte die Verfasserin damit gegen die „dogmatischen Grundlagen“ der modernen Wissenschaft und Theologie. Bereits zehn Tage nach Erscheinen war die erste Auflage vergriffen. Über Nacht war Helena Blavatsky zur Bestsellerautorin geworden. Ihre Antwort darauf: „Doch dieses Werk ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat.“ Schließlich sah sie sich lediglich als eine Art Medium, das das Buch mithilfe ihrer im Jenseits weilenden Meister geschrieben hatte.
Nach einem längeren Aufenthalt in Indien, von wo aus der Triumphzug der Theosophie durch die Welt begann, kam Blavatsky Ende Juli 1885 nach Würzburg. Hier, in der Ludwigstraße 6, begann sie mit der Überarbeitung von „Isis entschleiert“. Obwohl sie das Werk inzwischen weltweit bekannt gemacht hatte, so müsse es doch „um der Familienehre ganz neu geschrieben werden“, erklärte sie ihrem Mitstreiter Alfred Percy Sinnett. Erst im Herbst 1888 hielt sie die Druckfahnen des neuen Buches in der Hand. Wenige Monate später erschien „Die Geheimlehre“, die sich all jenen Fragen widmete, die die Menschheit seit Anbeginn ihrer Existenz beschäftigten. Der Untertitel „Die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Philosophie“ verwies zugleich darauf, dass es hier auch um all jene Probleme ging, die Darwin in seiner Evolutionslehre außer Acht gelassen hatte. Blavatsky wollte zeigen, dass die Natur nicht „ein zufälliges Zusammentreffen von Atomen“ sei, sondern dass es darum ging, „dem Menschen seinen richtigen Platz im Weltenplan zuzuweisen, die uralten Wahrheiten, welche die Basis aller Religionen sind, aus Erniedrigung zu befreien und bis zu einem gewissen Grade die fundamentale Einheit, aus der sie alle entsprungen sind, aufzudecken“. Nicht jedem Leser war solch ein alles vermischender Anspruch geheuer. So hieß es in einer 1932 von Hermann Hesse veröffentlichten Besprechung: „denn trotz einiger Wahrheiten, die sie enthält, hat diese Geheimlehre nicht den Stempel der Echtheit, sondern riecht nach allzu vielen Apotheken.“
Als Helena Blavatsky am 8. Mai 1891 in London starb, hatte sie viele Menschen in ihren Bann gezogen, darunter zahlreiche Wissenschaftler und Künstler. Über diesen, in der Verlagsvorschau und im Klappentext nur kurz erwähnten, jedoch bis heute spürbaren Einfluss auf Schriftsteller wie Joyce oder Rowling (man denke an die von ihr geschaffene Figur der Wahrsagerin Cassandra Vablatsky), auf Maler wie Kandinsky oder Klee und auf Komponisten wie Mahler oder Sibelius würde man gern mehr erfahren – vielleicht in einer erweiterten Nachauflage dieses unbedingt zu empfehlenden Buches.
Ursula Keller / Natalja Sharandak: Madame Blavatsky. Eine Biographie, Insel Verlag, Berlin 2013, 358 Seiten, 24,95 Euro.
Schlagwörter: Helena Blavatsky, Mathias Iven, Natalja Sharandak, Theosophie, Ursula Keller