22. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2019

Walter Grab 100

von Mario Keßler, New York

Zu erinnern ist an den israelischen Historiker Walter Grab, der am 17. Februar 1919 in Wien geboren wurde und am 17. Dezember 2000 in Tel Aviv starb. Die Französische Revolution und ihr Widerschein in Deutschland, die demokratischen Bewegungen im Vormärz, das Schicksal der deutschen und österreichischen Juden sowie die Chancen und Perspektiven der Arbeiterbewegung waren die Schwerpunkte seiner Forschung, die in zwanzig Büchern ihren Ausdruck fanden. Grab schrieb eine Vielzahl biographischer Essays über bis dahin unbekannte deutsche Jakobiner. Sein kraftvoller, schnörkelloser, bildhafter Stil widerspiegelte den Menschen Walter Grab als einen Genießer der schönen Dinge des Lebens, aber macht auch seine Bücher zu einer überaus spannenden Lektüre – noch über die Vielzahl der darin mitgeteilten Fakten und Zusammenhänge hinaus.
Walter Grab entstammte einem sozialdemokratischen Elternhaus. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland musste er fliehen. Das Glück, dass seine Mutter in Palästina Verwandte hatte, verhalf der Familie dort 1938 zu einem Neubeginn.
Zunächst ohne Kenntnis des Neuhebräischen und fast ohne finanzielle Mittel, musste Walter Grab sein Studium der Geschichte an der Hebräischen Universität aufgeben – einer der bittersten Momente seines Lebens. Es folgten zwei harte Jahrzehnte in Palästina und Israel, in denen er als Lederwarenhändler zum Unterhalt zuerst der Eltern und später der eigenen Familie, seiner Frau Alice und der beiden Kinder, beitrug. Sein Sohn Alex trat in des Vaters Fußstapfen und wurde gleichfalls Historiker – wählte aber bewusst nicht Deutschland oder Österreich, sondern Italien als Forschungsfeld.
Walter und Alice Grab hatten sich 1942 der Kommunistischen Partei Palästinas angeschlossen. Zwei Gründe hatten das Paar zu diesem Schritt bewogen. Die Solidarität mit der Sowjetunion, die die Hauptlast des Kampfes gegen Hitler trug, und die Ablehnung des Zionismus. So sehr Walter Grab die Notwendigkeit einer gesicherten Heimstatt für die Juden sah, so entschieden lehnte er die Idee ab, diese solle gegen den Willen der palästinensischen Araber errichtet werden. Bis zu seinem Lebensende hatten die israelischen Friedensbewegungen in ihm einen engagierten Mitstreiter.
Walter und Alice Grab blieben bis 1956 Mitglieder der KP. Wegen ihrer Forderung, als Konsequenz der „Geheimrede“ Chruschtschows auf dem XX. KPdSU-Parteitag mit dem Stalinismus zu brechen, wurden sie ausgeschlossen. Daraus zog Walter Grab eine Folgerung für sein weiteres Leben: Er wollte seine Kritik an den Fehlentwicklungen des Kommunismus in einer Weise äußern, dass sie nicht von der antikommunistischen Propaganda des Kalten Krieges auszunutzen war.
Zwei Jahre später konnte Grab endlich den ihm liebsten Beruf einschlagen: Durch ein Gewerkschaftsstipendium, für das sich besonders sein Freund Jakob Moneta und der Tel Aviver Althistoriker Zvi Yavetz eingesetzt hatten, studierte er in Hamburg Geschichte, Politikwissenschaft und Literaturgeschichte. Im Jahre 1965 wurde er bei Fritz Fischer zum Dr. phil. promoviert. Das Thema der Arbeit lautete “Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-Holstein zur Zeit der ersten französischen Republik”. Damit fand Grab sein ureigenes Arbeitsfeld. 1966 berief ihn die Universität Tel Aviv zum Dozenten, 1970 wurde er außerordentlicher, 1972 ordentlicher Professor für neuere Geschichte. 1971 gründete er mit Unterstützung der Volkswagen-Stiftung das Institut für deutsche Geschichte, das unter seiner Leitung zahlreiche Tagungen ausrichtete.
In seiner Forschung ging Walter Grab vor allem den Lebenswegen, Ideen und politischen Aktivitäten deutscher Demokraten nach, die, so schrieb er, „im Zeitalter zwischen der Französischen Revolution und der Reichsgründung die politische Zersplitterung Deutschlands beseitigen und einen einheitlichen republikanischen Rechts- und Verfassungsstaat begründen wollten.“ Er wollte den „Vorkämpfern des politischen Fortschritts, die unverdienter Vergessenheit anheimgefallen sind“, einen Gedenkstein setzen. Aus diesem Impuls erwuchsen die Bücher “Norddeutsche Jakobiner” (1967) sowie “Leben und Werke norddeutscher Jakobiner” (1973), sodann die Quellensammlung “Freyheit oder Mordt und Todt. Revolutionsaufrufe deutscher Jakobiner” (1979), schließlich 1984 als Summe lebenslanger Bemühungen die über sechshundert Seiten starke Darstellung “Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte des deutschen Jakobinismus”.
In seinem vielleicht besten Buch kam Walter Grab 1982 auf den Zusammenhang von künstlerischer Tätigkeit und öffentlichem Wirken zu sprechen. “Heinrich Heine als politischer Dichter” war „eine Studie, die Heines gesellschaftliche und politische Konzeptionen anhand seines politischen Lernprozesses und seiner eigenen historischen Erfahrung untersucht.“ Das Buch war keine Apologie auf den von Grab bewunderten Dichter, dessen „Hochachtung für die intellektuellen ‚Doktoren der Revolution‘“ – Marx und Engels – 1848 im Widerspruch zu „seinem politischen Abscheu vor den politischen Aktionen der besitzlosen plebejischen Massen“ stand. „Heines Voraussage, dass dem Kommunismus die Zukunft gehöre, schwankte zwischen Hoffnung und Beklemmung.“ Doch war Heines Botschaft „keine fatalistische Ergebung in die Katastrophe der Niederlage, sondern die Gewissheit, dass andere Kämpfer nachrücken, dass Vernunft und Humanität im Stafettenlauf schließlich die Oberhand gewinnen müssen. Die Selbstemanzipation des Menschen aus den Fesseln autoritärer Herrschaft ist ein Auftrag an ein künftiges Geschlecht, das die Freiheitsfackel aufnimmt, um jene Enkel zu erleuchten, ‚die noch nicht geboren sind‘.“
Walter Grab war mehrmals Gastprofessor in der Bundesrepublik, die DDR hielt zu dem kritischen Marxisten aus Israel Distanz. Dies galt nicht für den Leipziger Historiker Walter Markov, der Grab mehrmals einlud.
Als Hochschullehrer und in Hunderten von öffentlichen Vorträgen betonte Walter Grab immer wieder, dass soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit untrennbar sind. Nur beides zusammen mache Demokratie aus. Ihre Formen wechselten, gab er auch dem Verfasser dieser Zeilen auf den Weg: Die bürgerliche und die sozialistische Demokratie sind Antworten auf je spezifische Formen der Unterdrückung, die Werte der Demokratie aber sind überzeitlich.