von Klaus Joachim Herrmann
Ob nun Väterchen Frost in Russland seine Gaben nach europäischem Brauch oder zwei Wochen darauf zum Alten Neuen Jahr vom Schlitten lud – die Wünsche blieben die gleichen. Mit 37 Prozent lagen die nach Gesundheit und nach Frieden mit zehn Prozent vorn, listete das Russische Zentrum zur Erforschung der Öffentlichen Meinung (WZIOM) auf.
Zu jenen vier Prozent, die sich um Russlands Wohlergehen kümmern, gehört pflichtgemäß Präsident Wladimir Putin. Er schickte mit einem Aufruf zu Gemeinsamkeit, Einheit und Stärke seine Mitbürger in das neue Jahr. Ein Hinweis nicht ohne Bitternis. Denn als Begründung fügte der Kremlchef bei, Russland habe nie Helfer gehabt und werde sie auch in Zukunft nicht haben. Verbesserungen würden nur aus eigener Kraft zu erreichen sein.
Wenn Wladimir Wladimirowitsch wünscht, dass „Harmonie im Hause herrscht, dass die Kinder uns Freude bereiten und das Leben friedlich bleibt“, präsentiert er sich als sorgender Hausherr für „unsere Heimat – unser geliebtes Russland“.
Das sollte die Botschaft eines Patrioten sein. Als jedoch Mitte Dezember der Korrespondent des Uralskoje Telewidenije den Staatschef auf dessen Pressekonferenz anregen will, Patriotismus als „nationale Idee“ in der Verfassung festzuschreiben, verweist ihn Putin „an die Gesellschaft“ und damit ins Ungefähre. Auf die Frage, welches Russland denn nun aufgebaut werde – ein rechtgläubiges, eines der Selbstherrschaft oder der zivilen Gemeinschaft – bleibt er die Antwort schuldig. Auf den Wunsch nach einem „moralischen Kodex des Aufbaus des Kommunismus“ geht er nicht ein. Eine „moderne Variante dieser Ideen“ sei nötig, hatte der Chefredakteur der Zeitung Gesellschaft und Ökologie angeregt. Auf den Vorschlag, darüber in den Medien debattieren zu lassen, reagiert Putin kurz. Die Verantwortlichen hätten das wohl gehört. Zu einer Überarbeitung der 25-jährigen Verfassung lässt er keine Neigung erkennen. Dass er sie als „lebendigen Organismus“ bezeichnet habe, sei mehr „im Allgemeinen“ gesagt und kein Hinweis auf konkrete Veränderungen gewesen, lässt er seinen Sprecher erläutern. Raum für Interpretationen lässt der Chef in einem Punkt freilich nicht: Eine „Restauration des Sozialismus in Russland wird es nicht geben“. Doch was bei Amtsvorgänger Boris Jelzin als Bekenntnis zu Demokratie, Fortschritt und westlicher Orientierung ausgelegt worden wäre, verhallt in allen politischen und sonstigen Himmelsrichtungen ohne Echo.
Das gilt freilich auch für das Bekenntnis des Kremlchefs, der „richtigste, wirklichste und effektivste Nationalist“ zu sein. Vor dem exklusiven Waldai-Klub in- und ausländischer Experten versäumt Putin im Juni allerdings nicht den einschränkenden Hinweis, es gehe hier nicht um einen „urweltliche Nationalismus“. Die Lobpreisung des einen Ethnos auf Kosten des anderen, würde „zum Zerfall unseres Staates führen“. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass sich kurz danach die Nachrichtenagentur TASS der „Rehabilitation eines Terminus“ widmet. Sie verweist auf eine fast wortgleiche Bemerkung des US-Präsidenten und lässt ganz sicher gleichermaßen für den eigenen Staatschef gelten, was sie Trump einräumt. So gehe der Chef des Weißen Hauses davon aus, dass auch andere Führer genau wie er im Interesse ihres Landes handelten. Sie seien in diesem Sinne weder besser noch schlechter als andere.
Wladimir Putin hat unter der Losung „Ein starker Präsident – ein starkes Land!“ im März die Wahl gewonnen. Zum Jahreswechsel sind seine Popularitätswerte mit weniger als 40 Prozent auf die Zeit vor der Krim-Übernahme zurückgefallen. Sein Einsatz für die Rentenreform kostet Ansehen.
Das „Komitee für Bürgerinitiative“ vermerkt eine ebenfalls sinkende Zustimmung zur Außenpolitik, da die Konflikte zunähmen und zu einem Abbau des Lebensniveaus führen würden.
Als eine Art Losung ist in der Zeitschrift Kommersant zu lesen: „Mehr Gerechtigkeit und weniger starke Führer“.
Ihre Lebensqualität sehen die Russen nach einer Meinungsumfrage des WZIOM durch Gesundheit, Sicherheit, stabile Einkommen, Ökologie, Qualität und erschwingliche Lebensmittel bestimmt. An all dem hapert es zunehmend. 45 Prozent meinen, die Dinge entwickelten sich in die richtige Richtung, 44 Prozent geben an, es laufe falsch. Präsident Putin fordert Verbesserungen „nicht auf dem Papier“. Nur ein Drittel billigt noch die Tätigkeit des Premiers Dmitri Medwedjew und des Parlaments.
Putin will die Bürger einig sehen – auch im demonstrativen Bund mit der einflussreichen orthodoxen Kirche. Mit dem Segen von Patriarch und Popen hatte schon Josef Stalin das Land geeint zum Sieg im Großen Vaterländischen Krieg geführt. Man solle endlich aufhören, das Land in Rote und Weiße zu teilen, kann jetzt als aktuelles Motto des neuen starken Mannes in Moskau gelten. Der hat seit dem Jahr 2000 Russland vom Rande des Abgrunds zu Stabilität und Weltgeltung zurückgeführt. Im Jahr des 100. Jubiläums der Oktoberrevolution, die einmal die Große Sozialistische hieß, möchte er einen Punkt setzen. Niemand dürfe die Tragödie von einst ausnutzen, „Zwist und Hass, Verletzungen und Verbitterungen der Vergangenheit in die Gegenwart ziehen“.
Allerdings erntete der Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, General Alexander Bortnikow, als er eben diesem Motto folgte, dafür einen Sturm der Empörung. Nach einem Interview zur Würdigung des Geheimdienstes und seiner Tradition wird ihm Verharmlosung des Terrors und der Repressionen der Stalinzeit vorgeworfen. Mitglieder der Akademie beklagen, dass erstmals seit dem 20. KPdSU-Parteitag „einer der höchsten Verantwortungsträger die Massenrepressionen der 1930er/1940er Jahre gerechtfertigt“ habe.
Seinen Sprecher Dmitri Peskow lässt Putin nicht einmal das vom Lewada-Zentrum ermittelte wachsende Bedauern von inzwischen zwei Dritteln der Russen über den Zerfall der Sowjetunion bestätigen. Nostalgie sei ein möglicher Grund dafür und dass man nicht mehr das Gefühl habe, einer Supermacht anzugehören. Kaum zu bestreiten sei aber, dass Russland eine souveräne Macht sei, auf die die überwiegende Mehrheit der Russen stolz sei.
Putin selbst holte zwar die Sowjethymne aus Jelzins Archiv unter Beifall zurück, scheint solcher Nostalgie aber eher unverdächtig. Als er den Untergang der UdSSR als jenes historische Ereignis nannte, das er am liebsten ändern würde, dürfte ihn der Schmerz über den Verlust eines Imperiums geleitet haben. Zweifellos hat dieser Untergang – wie einst der Aufstieg – die Welt erschüttert. Bis heute ist sie nicht wieder neu und schon gar nicht solide sortiert. Er sei gewählt, darin die Interessen der Bürger Russlands zu vertreten, wird deren Präsident nicht müde zu wiederholen. Ein solcher Herr Putin würde andernorts als Pragmatiker durchgehen. Doch der Mann im Kreml bleibt den einen Computerhacker, Giftmischer und Kriegstreiber. Anderen ist er Opfer von Verleumdern und ein Friedensstifter. Beweise und Motive erweisen sich bei solchen Schraffuren als eher unnütz.
„Wir hier im Westen haben irgendwann vergessen, dass Russland ein Faktor auf der Weltbühne ist, der als größtes Land der Welt auch Interessen hat“, versucht der frühere SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck eine Wiederbelebung realistischer Ostpolitik. Betrachtet man russisches Vorgehen abseits der Unterstellung bösartigen Weltmachtstrebens, lassen sich auch ernste Gründe finden: Einkreisung durch NATO-Stützpunkte zum Beispiel oder Regime-Change des slawischen Zwillingsbruders Ukraine von Freund zu Feind. Es geht nicht darum, die Übernahme der Krim zu billigen oder jedes Vorgehen in der Ostukraine. Aber wäre nicht doch zur Kenntnis zu nehmen, dass die Übernahme der Stützpunkte der Schwarzmeerflotte durch die NATO unmittelbar bevorstand, dem russischen Donbass die Sprache genommen werden sollte und Ex-Premierin Julia Timoschenko hetzte: „Atombombe drauf!“
Könnten die Krim gegen das Votum ihrer Bewohner an den Vorbesitzer zurück und der Donbass Kiew ausgeliefert werden? Moskau dürfte weiterhin Sanktionen vorziehen. Ohne Ausgleich der Interessen wird sich hier nichts bessern. Mit einem pragmatischen Patrioten dürfte aber doch wohl zu reden sein, wenn man es denn wollte.
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