22. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2019

Wunderkammer und poetisches Tollhaus

von Reinhard Wengierek

Die Rechnung ist aufgegangen: Nicht Kleckern, sondern Klotzen. Aber: Klotzen mit den richtigen Sachen. – Freilich, da steht an erster Stelle das Geld: Zwölf Millionen Euro hat Berndt Schmidt, der Intendant des hauptstädtischen Revue-Tempels Friedrichstadt-Palast, mit reichlich Wagemut locker gemacht für die „Grand Show VIVID“. Und das Sprichwort gab dem Mittfünfziger Recht. Er wagte und gewann!
Das war schon bei seinem Amtsantritt 2007 so, als schwerste Bedenkenträger vor der „schwierigen Kiste Palast“ warnten: Zu groß (Riesenbühne, Riesensaal, ein kostspielig fest engagiertes Riesenballett nebst Orchester – also ein nur schwerlich in den Griff zu kriegender Riesenapparat) – und noch dazu die starke Konkurrenz vor Ort. Doch Schmidt startete jenseits aller Unkerei mit allerhand gepumpten Moneten von Anfang an kühn durch, rüstete etappenweise technisch hoch und zugleich künstlerisch. Also Masse, aber nichts ohne Klasse. Da war da nichts zu teuer, und alles, was da angeheuert wurde aus aller Welt, war das viele Geld wert.
Doktor Berndt Schmidt über das neue Palast-Programm VIVID (englisch für lebendig, farbenprächtig, strahlend): „Um unsere Vision einer prachtvollen Show umzusetzen, wurde ein Kreativteam zusammengestellt aus den Bereichen Tanz und Akrobatik, Choreographie, Komposition und Text, Bühnen-, Licht-, Video-, Sound-, Effekt- und Kostümdesign, Ingenieurswesen, Stunt-, Comedy- und Schauspieltraining. Verteilt auf fünf Zeitzonen in 15 Städten hat das Team rund um die Erde zwei Jahre lang gearbeitet. Emails und Videokonferenzen waren Grundlage dieser Zusammenarbeit mit wöchentlichen Meetings.“
Was für eine Fülle von Gewerken/Berufen. Was für ein Zusammenspiel von Kunst, High-Tech, Handwerk; darunter – das ist nicht zu hoch gegriffen – mit Weltmeistern oder Weltstars der jeweiligen Branche. Und was für ein weit gespanntes Netzwerk von Melbourne über Berlin bis Las Vegas.
Engagiert ins Netz wurde beispielsweise Philip Treacy, den The Times zum „berühmtesten Hutmacher der Welt“ ernannte; sein Kopfputz schmückt gekrönte Häupter und den Adel des Pop. Oder die kanadische Autorin, Regisseurin und Choreographin Krista Monson, die als Artistic Director den anhaltenden Welterfolg des Entertainment-Giganten Cirque du Soleil managt und ansonsten in Las Vegas, New York, Mailand, Macau, Orlando oder Tokio arbeitet. An ihrer Seite als Co-Regisseur steht Oliver Hoppmann, einer der jüngsten Showmacher in der europäischen Szene, seit 2015 Kreativdirektor des Palastes. Dazu der Kostümbildner Stefano Canulli mit seinen wahrlich sagenhaften Kreationen, für deren enorm aufwändige, extrem komplizierte Herstellung internationale, vor allem aber auch hiesige Studios sorgten. Massenhaft Augenfutter vom Feinsten.
Dieses Spotlight belichtet bloß einen kleinen, freilich wesentlichen Teil der Stabliste; der große Rest besteht, versteht sich, gleichfalls aus Spitzenkönnern ihres Fachs. Soviel zu solch eher nüchtern klingenden Ansagen wie „Kreativteam“, „meisterliche Mitarbeiter“, „Netzwerk“. Das alles muss einer erst mal zusammen kriegen und unter einen Hut bringen können, abgesehen von den hundert mitwirkenden Künstlern (mit 27 Muttersprachen aus entsprechend vieler Herren Länder). Die zwölf Millionen Produktionsbudget (immerhin muss VIVID sich über mindestens zwölf Monate Laufzeit behaupten), das viele Geld ist also zielgenau ausgegeben worden. Und genau das meint Berndt Schmidt mit Klotzen. Bravo!
Bravo für dieses weltweit gewiss unvergleichliche Kunststück eines überwältigenden Theaters der Räume und Bilder (vom US-amerikanischen Designer Michael Cotten), die wiederum besonders inspiriert sind durch die immer wieder staunen machenden Optiken der Natur – die Welt der Pflanzen, der Blüten, des fliegenden, schwimmenden oder unter Wasser wabernden Getiers. In diese Phantasmagorie des Organischen (suggestive Großvideos) stürzen selbstredend Regie-kontrolliert kunstvoll verkleidete Menschen – Sänger, Tänzer, Artisten. Höchst wundersam.
Zwei künftige Stars (Palast-Nachwuchsförderung!) seien genannt, auch weil sie aus Berlin kommen: Nämlich die an der Universität der Künste ausgebildete Sängerin Devi-Ananda Dehm als durch die Szenen geisternde futuristische Fantasiegestalt sowie Andreas Bieber als rockender Entertainer mit Stock und Zylinder. Und wenn wir schon beim Singsang sind: Mit herrlich strömendem Mezzosopran thront über allem die weltweit auch im Film agierende US-Amerikanerin Glacéia Henderson. Das Raffinierte bei solistischen Auftritten: Monumentale Momente (unter Einsatz der mächtigen Maschinerie) wechseln mit sehr intimen, die ihre Intensität vornehmlich aus der Aura und Ausdruckskraft der Künstler ziehen.
Also das Technische flimmert, dampft, blitzt, säuselt und swingt oder dröhnt auch mal ordentlich „Wow!!!“. Doch niemals wird dabei der wie auch immer (teils bis zur verrückten Skulptur) verkleidete, toll tanzende oder spielerisch weit, weit hoch durch die Luft wirbelnde Mensch niedergebrüllt. Der wuchtige Apparat dominiert die Menschen nicht, er dient ihnen auf fantastischste Art. Auch der geschickt austarierte Wechsel der Temperaturen und Tempi von Hitzig und Kühl, Grell und Meditativ, Rasendem und Retardierendem bestimmt die Poesie des Abends und macht ihn so spannungsvoll. Ganz abgesehen vom immer wieder überrumpelnden Wechsel von atemberaubend kühler Erotik und handfester Sinnlichkeit (mit einem Stich ins Lokal-Plebejische).
Die Show hat was von gigantischer Wunderkammer. Und vergisst doch bei aller Coolness nicht ihre Wurzeln: nämlich den Zirkus, die imaginäre Wolke Sägespäne, das Clowneske, Spaßmacherische, den dreisten Scherz, den deftigen Humor einer lustigen Person. Das artifiziell Gestylte, auch sagenhaft Entrückte also immer gut gemischt mit dem Verspielten, auch dem sagen wir Volkstümlichen. Muss man können! Hier ward es zum großen, ja unvergesslichen Faszinosum. Die Wellen der Begeisterung schlugen hoch – neulich in einer „gewöhnlichen“ Vorstellung wochentags. Mit Standing Ovations! Besser gelaunt kann man sich nicht ins neue Jahr stürzen.