von Heerke Hummel
Die schwelende Finanzkrise hat dermaßen an Dramatik zugenommen, dass ein Bundestagsabgeordneter der „Grünen“ den mutigen Schritt unternehmen will, zum Jahresende sein Mandat niederzulegen, um als Vorstand der von ihm mitbegründeten „Bürgerinitiative Finanzwende“ zu arbeiten. Nachdem der Paukenschlag dieser Nachricht verklungen und Nachdenken angesagt ist, stellt sich die oben formulierte Frage. Zu betrachten ist, wo die Wurzeln der Krise liegen und welche Voraussetzungen gegeben sein müssten, um die Krise nachhaltig zu überwinden.
Technischer Fortschritt erweiterte in Jahrzehnten und Jahrhunderten die Arbeitsteilung und den weltweiten Austausch von Waren und Dienstleistungen so sehr, dass er die ganze Welt produktionsseitig und finanziell vernetzte, was seit geraumer Zeit mit dem Begriff Globalisierung zu erfassen versucht wird. Diese Prozesse brachten auch große Veränderungen im Geld- und Finanzsystem hervor. Das war eine mehr oder weniger kontinuierliche, extensive Entwicklung, die aber auch mit einem qualitativen Wandel verbunden war. Als entscheidender Kulminationspunkt ist (sowohl aus praktischer wie aus theoretischer Perspektive) das Jahr 1971 zu betrachten, als die Leitwährung des westlichen Systems, der US-Dollar, vom Gold abgekoppelt wurde. Das kam einer Revolution gleich. Denn das Geld war plötzlich und endgültig von der materiellen Produktion von Waren, darunter auch des Goldes, abgekoppelt und dem Wesen nach etwas Neues geworden – ein Arbeitszertifikat, ein Zeichen nicht mehr für die Geldware Gold, sondern für gesellschaftliche Arbeit; auch wenn die institutionelle Wirtschaftswissenschaft oder sonst jemand das kaum wahrhaben will. Als staatliches Zertifikat für gesellschaftliche Arbeit hatte das Geld seinen privaten Charakter verloren und das Verhältnis von Politik und Ökonomie grundsätzlich verändert; objektiv, also unabhängig davon, ob sich dessen jemand bewusst war oder nicht. Der Staat musste sich spätestens von nun an in die Wirtschaft einmischen, um die Fähigkeit dieses (dem Wesen nach) neuen Geldes zu gewährleisten, den Austausch von Waren und Leistungen zu vermitteln und den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess stabil in Gang zu halten. Geradezu unsinnig sind daher die Forderungen (besonders aus dem Finanzsektor), der Staat möge sich zurückziehen und alles Wirtschaften den Märkten überlassen. Das Wirtschaften ist nicht mehr „Privatsache“. Und die Frage muss heute lauten: Wo liegen die Grenzen der Eigenverantwortung von Unternehmen, Banken etc im Umgang mit dem Geld, wie plant ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen seine künftige Entwicklung und wie steuert es dementsprechend die Eigeninitiative der Unternehmer und sonstigen Akteure? Dazu bedarf es eines neuen, ja gesellschaftlichen Denkens, das natürlich auch die positiven wie die negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit, nicht zuletzt des Ostens, zu berücksichtigen hat. Dies (vor allem auf Seiten der Wissenschaft) zu begreifen und kreativ zu verarbeiten wäre eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg des bürgerbewegten Reformprojekts „Finanzwende“. Sonst behielte Wolfgang Schäuble mit seiner im Jahre 2008, wenige Wochen nach Ausbruch der Finanzkrise, auf einer Lutherkonferenz in Berlin öffentlich vorgetragenen Äußerung zu diesem Finanzdebakel Recht „Uns bleibt nichts anderes übrig als weiterzumachen wie bisher – nach der Methode ‚Versuch und Irrtum‘“. Das Ergebnis solchen, nun schon wieder zehnjährigen Versuchens ist bekannt und deprimierend.
Gewiss kann eine „Finanzwende“ nicht bedeuten, das ganze System mit einem Mal umzukrempeln. Aber auch ein Vorgehen „Schritt für Schritt“ setzt ein allgemeines gesellschaftliches Ziel, eine Sinngebung voraus, das sich aus dem objektiven Wesen des Gesamtprozesses ableitet und sich völlig zu unterscheiden hat von dem bisher als Regulativ wirkenden Privatinteresse am Maximalprofit, vor allem von Banken.
Bei all dem geht es nicht um mehr Gerechtigkeit, auf die von den Armen wie von den Begüterten und Reichen gleichermaßen gern verwiesen wird, sondern um die notwendigen Erfordernisse der gesellschaftlichen (und zwar weltweiten) Reproduktion unter den Bedingungen des drohenden Klimawandels und aller letztlich daraus resultierenden sozialen Gefahren. Im Mittelpunkt steht dabei die Eigentumsfrage. Sie wird schon lange nicht mehr gestellt, auch nicht von der Linken, zumindest in der öffentlichen Diskussion. Ein allgemeiner Konsens scheint in dieser Gesellschaft darüber zu bestehen, dass das Fundament unserer Wirtschaft und unseres Wirtschaftens das Privateigentum bildet. Kaum jemand scheint daran zu zweifeln, schon gar nicht öffentlich, würde er doch den schwer wiegenden Vorwurf riskieren, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zu missachten oder aushebeln zu wollen. Dort heißt es in Artikel 14: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. […] Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Eigentum wird hier zu einem ausschließlich juristisch verstandenen Begriff; und zwar als privates Rechtsverhältnis der Bürger zu einer Sache. Woher es kommt, wie es entsteht und wozu es dient, also welche ökonomische Funktion es erfüllt, wird weder hinterfragt noch definiert. Ganz anders war das bei der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, die im Verlaufe von 40 Jahren zwar mehrfach geändert wurde, aber stets zwischen dem gesellschaftlichen, produktiven Eigentum und dem privaten, persönlichen Eigentum der Bürger als Mittel der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung unterschied und dem ganzen ökonomischen Reproduktionsprozess der Gesellschaft große, sachbezogene Aufmerksamkeit widmete. (In der Bundesrepublik wurde all das weitestgehend den Märkten des Geldes und der Finanzen, dem Arbeitsmarkt und dem Interesse und „Einfallsreichtum“ ihrer Akteure überlassen.) Noch unmittelbar vor „Toresschluss“, am 17. Juni 1990 (das Datum regt in mancher Hinsicht zum Nachdenken an!), wurde für die ihrem Ende entgegen gehende DDR in Vorbereitung auf den Beitritt zur Bundesrepublik ein „Verfassungsgrundsätzegesetz“ verabschiedet. Mit ihm wurden die hier in Rede stehenden, einer neuen, sachbezogenen ökonomischen Denkweise entsprechenden Festlegungen der DDR-Verfassung faktisch aufgehoben oder gestrichen (zum Beispiel: „Art. 9. (3) In der Deutschen Demokratischen Republik gilt der Grundsatz der Leitung und Planung der Volkswirtschaft sowie aller anderen gesellschaftlichen Bereiche. Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik ist sozialistische Planwirtschaft. Die zentrale staatliche Leitung und Planung der gesellschaftlichen Entwicklung ist mit der Eigenverantwortung der örtlichen Staatsorgane und Betriebe sowie der Initiative der Werktätigen verbunden.“) Dieser rigorose Rückzug des Staates aus der Wirtschaft war die Kapitulation der Politik vor der von Privatinteressen und Profitgier getriebenen Ökonomie – nun in ganz Deutschland.
Diese Kapitulation zu überwinden und ein Primat der Politik über die Ökonomie auch grundgesetzlich (und natürlich auch in einer Verfassung der Europäischen Union) zu sichern und dabei den ganzen Planeten Erde im Auge zu haben dürfte zu den entscheidenden Voraussetzungen für nachhaltige Erfolge der „Bürgerbewegung Finanzwende“ gehören. Wie deren Organisatoren verlauten lassen, wächst sie stetig und nimmt die ersten öffentlich sichtbaren Aktionen in Angriff, um die Finanzaufsichtsbehörde BaFin zu zwingen, ihrer Pflicht zum Verbraucherschutz nachzukommen. Doch werden solche Aktionen – gewissermaßen im Nach-Trab – genügen, um eine wirkliche Finanzwende herbeizuführen? Oder gilt es nicht, ein wirklich neues, primär sachbezogenes ökonomisches Denken einzuleiten und im Grundgesetz zu verankern? Wichtig wäre vor allem, die Frage des Eigentums neu zu definieren, so dass die Gesetzeslage den in der Realität dem Wesen nach bereits gegebenen Bedingungen gerecht wird. Das betrifft vor allem den gesellschaftlichen Charakter allen produktiv-kommerziellen Eigentums, der sich aus dem neuen Wesen des Geldes ableitet. Nicht zu übersehen ist, dass der ganze durch Warenaustausch und Geldverkehr vermittelte Bereich des gesellschaftlichen Lebens schon lange seinen privaten Charakter, sein privates Wesen in mehrfacher Hinsicht verloren hat:
Erstens hat der gesellschaftliche Reproduktionsprozess die Grenzen alles Privaten in ökonomischer, ökologischer und politischer Hinsicht (Machtfrage und politische Stabilität) seit langem weit überschritten, so dass die Existenz von Natur und Gesellschaft durch ungesteuertes, vom Streben nach Maximalprofit bestimmtes Agieren privater Akteure in Gefahr geraten ist.
Zweitens hat das den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess und den Austausch von Waren und Leistungen vermittelnde Medium – das Geld – seinen privaten Charakter verloren. Spätestens seit der endgültigen Abkopplung vom Edelmetall (Gold) im Jahre 1971 durch den Bruch des Abkommens von Bretton Woods seitens der USA ist dieses Geld keine „Allgemeine Ware“ (Marx) und vertritt eine solche auch nicht mehr. Es mutierte – dem Wesen nach – zu einem Zeichen für „Arbeit für die Gesellschaft“. Als solches drückt es für die Gesellschaft geleistete Arbeit aus und bescheinigt Teilhabe am Reichtum der Gesellschaft. Das bedeutet, dass alle im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess zirkulierende, verausgabte Arbeit beziehungsweise ihr Produkt der Gesellschaft gehört und das Geld den Anteil seines Besitzers daran bescheinigt. Mit dieser Bescheinigung bezieht der Einzelne als Privater (nicht als produzierender gesellschaftlicher Agent) für seinen wirklich privaten Bedarf und Verbrauch entsprechende Produkte aus den – dem Wesen nach – gesellschaftlichen Fonds. (Bei den kontoführenden Banken wird zwischen Privat- und Geschäftskonten der Kunden unterschieden.)
Drittens bedarf der Umgang mit diesem Geld, das zu einem entscheidenden Faktor ökonomischer und politischer Macht geworden ist und durch Kredit quasi beliebig zu vermehren ist, gesellschaftlicher Regeln und einer gesellschaftlichen Kontrolle. Gleiches gilt für das gesamte Finanzsystem. In Ansätzen wird das sogar bereits praktiziert, aber ohne schlüssiges Gesamtkonzept, weil man ja vom Wirtschaften als Privatangelegenheit überzeugt ist und gesellschaftliches Dirigieren unbedingte Ausnahme im Falle eines drohenden Kollapses sein soll.
Viertens trägt das finanzielle Risiko unternehmerischer Entscheidungen, die fast immer durch Versicherungen aller Art weitgehend abgesichert sind, letztendlich die Gesellschaft als ganze, besonders dann, wenn die Schäden und Verluste das Leistungsvermögen der Verursacher, die zudem oft nur schwer zu ermitteln und zu belangen sind, weit übertreffen. Die Banken-, Immobilien-, Staatsschulden- und Automobilkrisen der letzten Jahre mögen das eindrucksvoll belegen.
Dieser objektiven Sachlage der ökonomischen Realität und den daraus erwachsenden gesetzlichen Erfordernissen werden die jetzigen Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes der BRD in keiner Weise mehr gerecht. Erforderlich ist eine grundgesetzliche Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters aller kommerziellen Produktion und des Austauschs sowie des damit verbundenen Eigentums – im Unterschied zum tatsächlich privaten Eigentum für den persönlichen Bedarf und Verbrauch. Eine solche Gesetzeslage würde auch der Wirtschaftswissenschaft eine neue Orientierung geben für die Erarbeitung weiterer rechtlicher Grundlagen und Regelungen zum Schutz vor ökonomischen (und sicher auch politischen) Krisen, anstatt Letzteren wie bisher mit Feuerwehraktionen hinterherzulaufen oder sie sogar durch falsche Zielstellungen zu befeuern.
Auch wenn eine wirklich grundlegende Wende im Finanzsystem nur Schritt für Schritt erfolgen kann, muss das größere Ziel der gesellschaftlichen Reproduktion – die Befriedigung der konkreten Lebensbedürfnisse der Menschen statt privater, abstrakter Kapitalverwertung um jeden Preis und auf Kosten von Mensch und Natur – klar sein sowie das notwendige Bewusstsein vom Wesen der Sache und des Problems, das in Folgendem besteht: Während die reale Welt dem Wesen nach die oben beschriebenen Veränderungen durchgemacht hat, also revolutioniert wurde, ist dieses neue Wesen der Realität vom gesellschaftlichen Bewusstsein nicht wahrgenommen worden. Die Vorstellungen im gesellschaftlichen Bewusstsein und der ganze ideologische Überbau der Gesellschaft sind stehengeblieben und harren bis heute dort aus, wo beziehungsweise wie Karl Marx sie analysiert hat – mit Begriffen wie Warenaustausch, Wert und Kapital, Privateigentum, Konkurrenzkampf und so weiter und wie das ganze System, oberflächlich betrachtet, auch erscheint, weil es juristisch noch immer – entgegen seinem veränderten Wesen – so im Gesetzeswerk der Gesellschaft fixiert ist. Diesen Widerspruch zwischen Sein und Bewusstsein der Gesellschaft, zwischen Objektivem und Subjektivem gilt es mit einer Verfassungsänderung zu überwinden. Dies wird ein langer und schwieriger Weg sein. Denn es gilt, mächtige Barrieren zu überwinden – nicht nur was die persönlichen Interessen und Vorurteile von Millionen Menschen, Praktikern und Theoretikern betrifft, sondern auch und besonders deren ökonomisches Denken und Wahrnehmungsvermögen eines hinter den Oberflächenerscheinungen liegenden Wesens der Realität, das so gar nicht den tagtäglichen Erfahrungen und Eindrücken der Menschen zu entsprechen scheint. Dass dennoch Hoffnung nicht fehl am Platze ist, mag der österreichische Ökonom Ludwig v. Mises lehren. Bereits in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts beklagte der später in die USA emigrierte Wirtschaftswissenschaftler mit seinem Gespür für Realitäten eine zunehmende „Sozialisierung“, die er in der Beschneidung privater Eigentumsrechte witterte und die, wie er meinte, so weit ginge, dass schließlich vom Eigentum nur noch der leere Name bliebe, der Unternehmer aber auf die Stellung eines am Ertrag beteiligten Angestellten herabgedrückt würde. Das war eine bemerkenswerte Voraussicht, die uns Heutigen das Umdenken erleichtern sollte; allerdings ohne Fehler und falsche Dogmen der Vergangenheit zu ignorieren!
Schlagwörter: Eigentumsfrage, Finanzwende, Geld, gesellschaftliche Arbeit, gesellschaftlicher Reproduktionsprozess, Heerke Hummel, Kapital