von Mathias Iven
Mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod erscheint nun endlich die erste umfassende Auswahl mit Briefen des Literaturnobelpreisträgers Elias Canetti. Rund 600 Schreiben aus sechs Jahrzehnten haben sein Biograph Sven Matuschek und der seit langen Jahren mit dem Canetti-Nachlass vertraute Kristian Wachinger dafür zusammengetragen. Zu den zahlreichen, in dem Band vertretenen Briefpartnern gehören unter anderem die Lektoren des Hanser Verlages Herbert Göpfert und Fritz Arnold, die Schriftstellerkollegen Rudolf Hartung oder Claudio Magris sowie Canettis lebenslange Freundin, die österreichische Tänzerin und Kabarettistin Cilli Wang. Insgesamt betrachtet, so fassen es die Herausgeber in ihrer knapp gehalten Vorbemerkung zusammen, vermittelt dieses Buch nicht nur einen Überblick zur Entstehungsgeschichte von Canettis Werk, es ist zugleich auch „ein Zeitbild, ein Querschnitt durch den deutschen Literaturbetrieb, der sich nach dem Krieg neu erfinden musste“.
„Über mein Leben gibt es eigentlich nicht viel zu sagen. Ich habe in Wien meinen Doktor gemacht, mich da als Schriftsteller niedergelassen und eine Wienerin geheiratet, die auch Schriftstellerin war.“ Nur zwei Sätze, geschrieben im Januar 1964 – mehr mussten Canettis Leser nicht wissen. Erst mehr als ein Jahrzehnt später wird der erste Band seiner Autobiographie erscheinen.
Begonnen hatte Canettis schriftstellerisches Schaffen 1936 mit dem lange unbeachtet gebliebenen Roman „Die Blendung“. Sehr viel später schrieb er mehrere Theaterstücke, veröffentlichte Essays, gab Interviews. Schaut man heute auf sein Werk, fallen vor allem die in zahlreichen Bänden veröffentlichten Aufzeichnungen ins Auge. „Sie sind mir“, schrieb er 1946 an Ernst Schönwiese, „in ihrer Direktheit und Schärfe, ihrer Varietät und Frische persönlich das Liebste, das ich mache.“ Und sie blieben es ein Leben lang. Noch am 7. August 1994, eine Woche vor seinem Tod, gestand er der Schweizer Literaturwissenschaftlerin Annette Gersbach: „Merkwürdig ist es schon, wie mir die Aufzeichnungen immer wichtiger werden.“
Doch sein eigentliches Lebenswerk – „das einzige wirklich Wichtige, was ich in meinem Leben unternommen oder wenigstens versucht habe“ – war für Canetti sein 1960 erschienenes „sozial-psychologisches Buch“ „Masse und Macht“. Bereits 1925, da studierte er im Hauptfach Chemie an der Wiener Universität, lagen erste Aufzeichnungen für das Buch vor, das er bereits zu diesem Zeitpunkt als sein Lebenswerk betrachtete. Die Niederschrift des eigentlichen Textes begann allerdings erst Ende 1948. Vier Jahre nach Erscheinen des Buches erklärte er: „Ich habe den besten Teil meines Lebens an dieses Werk gesetzt und bin zu Ergebnissen, die alle und besonders jüngere Menschen in Deutschland erreichen sollten.“
Den „besten Teil [s]eines Lebens“, hatte er mit seiner Frau Veza, der „Wienerin“, geteilt. 1924 lernten sich die beiden kennen, zehn Jahre später heirateten sie. Mehr als Canetti selbst hat sie als „schärfster und bester Kritiker“ stets an sein Werk geglaubt. „Was immer ich bin, schulde ich ihr, und es liegt mir daran, dass jeder Mensch, den ich achte, es weiß.“ So hieß es 1963, nur wenige Tage nach ihrem Ableben in einem Brief an Herbert Göpfert. Und am selben Tag schrieb er an Rudolf Hartung: „Sie hat mich entdeckt, gehalten und belebt. Sie war mein Mark und sie war mir mehr als alle anderen Menschen auf der Welt zusammengenommen. Es wird nicht viel übrig bleiben von mir.“ „Sie“, erfuhr Hartung drei Jahre später, „ist durch meine Verbohrtheit in ,Masse und Macht‘ im Lauf der Jahre aufgezehrt worden, und als ihre Kräfte verbraucht waren, ist sie gestorben.“
Canettis Briefe zeigen einen Schriftsteller, der um die Schwierigkeiten seines Werkes wusste und dennoch daran festhielt. Ein Schriftsteller, der sich keinem Publikumsgeschmack unterwarf und dessen Bücher uns noch viel zu sagen haben.
Elias Canetti: „Ich erwarte von Ihnen viel“. Briefe 1932–1994, Carl Hanser Verlag, München 2018, 864 Seiten, 42,00 Euro.
Schlagwörter: Briefe, Elias Canetti, Kristian Wachinger, Mathias Iven, Sven Matuschek