21. Jahrgang | Nummer 22 | 22. Oktober 2018

Der Maler schmierte Leute an

von Frank-Rainer Schurich

Am 4. Juni 1844, vor fast 175 Jahren, erhoben sich die Weber im Eulengebirge in der preußischen Provinz Schlesien gegen ihre Unterdrücker in Peterswaldau und Langenbielau. Kontore, Lager, Maschinen und Mobiliar der sie ausbeutenden Textilfabrikanten, die damals Verleger hießen, zerstörten die Aufständischen. Das Handelshaus E. F. Zwanziger und Söhne in Peterswaldau, wo alles begann, beschäftigte zum Beispiel tausende Spinner, Spuler und Weber und zahlte so wenig Lohn, dass die Familien zu verhungern drohten. Das preußische Militär schlug am 6. Juni 1844 den Aufstand blutig nieder. Elf Menschen wurden erschossen, 24 verletzt.
Die gerichtliche Untersuchung übernahm der Kriminalsenat des Oberlandesgerichts Breslau. Eine königliche Kabinettsorder forderte, „mit allem Fleiß … die Aufwiegler zu entdecken und zur Bestrafung zu ziehen“. In das Fadenkreuz der Ermittler kamen der Fabrikant und Demokrat Schlöffel und der im Weberdistrikt lebende Schriftsteller Eduard Pelz.
Der Berliner Kriminalkommissar Wilhelm Stieber (1818–1882), ein gehorsamer Untertan und Willensvollstrecker der feudalen Reaktion in Preußen, ging 1845 als „Landschaftsmaler“ Schmidt ins Hirschberger Tal, um Schlöffel und andere zu bespitzeln und verhaften zu lassen. Schlöffel, der vier Monate in Untersuchungshaft gehalten wurde, konnten aber keine staatsfeindlichen Aktivitäten nachgewiesen werden. Pelz war vorsorglich inhaftiert und dann freigelassen worden. Alles Unrecht, für das Wilhelm Stieber maßgeblich die Verantwortung trug.
Der Breslauer Kriminalsenat kam zwar zu dem Schluss, dass als „aktenmäßig … nur konstatiert“ werden könne, „die Härte der Handlung Zwanziger und Söhne in Peterswaldau“ habe „die bedauerlichen Exzesse provoziert“. Aber achtzig Angeklagte befand das Gericht für schuldig, an der Erstürmung von Herrschaftshäusern und am Widerstand gegen das Militär teilgenommen zu haben. Insgesamt wurden 203 Jahre Zuchthaus, 90 Jahre Sträflingsarbeit auf Festungen und 330 Peitschenhiebe zugemessen. Der Anführer Franz Wurm war sogar zum Tode durch das Beil verurteilt worden, später jedoch begnadigt.
Wilhelm Stieber belohnte man hoch. Aufgrund seiner enormen Energie und Rücksichtslosigkeit sowie seines Bespitzelungseifers wurde er auf Weisung von König Friedrich Wilhelm IV. Polizei-Assessor und Leiter der Sicherheitspolizei in Preußen und später Chef des wilhelminischen Geheimdienstes. Mit großer Hingabe widmete sich Stieber der Aufgabe, die sozialistische Bewegung polizeilich zu erfassen.
Karl Marx lebte nach seiner Ausweisung aus Preußen in London. Mit seiner ersten radikalen Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (1848 „Manifest der Kommunistischen Partei“ mit Friedrich Engels) und dem Aufruf, dass sich die Proletarier aller Länder vereinigen müssen, stand er an erster Stelle der zu bespitzelnden Klassengegner Preußens.
In der preußischen Gesandtschaft in London richtete Stieber ein regelrechtes Büro der Geheimpolizei ein. Er recherchierte bis 1852 eifrig in England, Frankreich und Deutschland gegen verdächtige Demokraten.
Beim Schauprozess vom 4. Oktober bis 12. November 1852 in Köln lieferte Stieber sein Paradestück. Unter seiner Regie verfälschte man Dokumente, nahm Einbrüche zur Sicherung von Beweisen vor und inszenierte Meineide. Die Staatsanwälte Saedt und von Seckendorff sowie Stieber selbst mussten im Hochverratsprozess die Fälschungen eingestehen. Trotzdem verurteilte das Gericht sieben der elf angeklagten Kommunisten. Nach Ende des Prozesses verlieh König Friedrich Wilhelm IV. den Staatsanwälten hohe Orden.
Gemeinsam mit Dr. jur. Carl Georg Ludwig Wermuth, dem königlich Hannoverschen Polizei-Direktor, brachte Stieber in zwei Teilen „Die Communisten-Verschwörung des 19. Jahrhunderts“ heraus (1853/1854), „dies von zwei der elendesten Polizeilumpen unseres Jahrhunderts zusammengelogene, von absichtlichen Fälschungen strotzende Machwerk“ (Friedrich Engels).
Der Polizeispion Janos Bangya hielt sich in London in „allerhöchstem Auftrag“ von Februar 1852 bis Februar 1853 stets in unmittelbarer Umgebung von Marx auf. Der Spitzelbericht aus dem Jahr 1852 stammt vermutlich von ihm; darin diese Personalbeschreibung: „Marx ist von mittlerer Statur; 34 Jahre alt; trotz seines bestens Alters werden seine Haare schon grau; seine Gestalt ist kräftig; seine Gesichtszüge mahnen sehr an Szmere (wohl ein ungarischer Bürger), nur ist sein Teint mehr braun; sein Haar und Bart ganz schwarz; letzteren rasiert er gar nicht; sein großes, durchdringend feuriges Auge hat etwas dämonisch Unheimliches; man sieht ihm übrigens auf den ersten Blick den Mann von Genie und Energie an; seine Geistesüberlegenheit übt eine unübersehbare Gewalt auf seine Umgebung aus.“
Diese Beschreibung bildete offenbar die Grundlage für Stiebers Signalement im Buch mit Wermuth, aus dem unverkennbar seine subjektive Meinung und sein Hass gegen Marx hervorgehen: „Alter: 35 Jahre. Größe: 5 Fuß 10-11 Zoll hannöversch Maß. Statur: untersetzt. Haare: schwarz, gelockt. Stirn: oval. Augenbrauen: schwarz. Augen: dunkelbraun, etwas blöde. Nase: dick. Mund: mittel. Bart: schwarz. Kinn: rund. Gesicht: ziemlich rund. Gesichtsfarbe: gesund. Spricht deutsch im rheinischen Dialect und französisch. Besondere Kennzeichen: a) erinnert in Sprache und Aeußerm etwas an seine jüdische Abkunft, b) ist schlau, kalt und entschlossen.“
Stiebers „Practisches Lehrbuch der Criminal-Polizei“, das 1860 bei A. W. Hayn in Berlin erschien, ist das erste eigenständige kriminalpolizeiliche Regelwerk in deutscher Sprache. Darin gab er, 42-jährig, seine Erfahrungen auf kriminalpolizeilichem Gebiet preis, die aber vor allen Dingen auf dem politischen Teil der Arbeit lagen. In dieser Schrift rechtfertigte er die scharf kritisierten Vorgehensweisen der preußischen Kriminalpolizei. Es war wohl seine Form der Auseinandersetzung, denn zum Zeitpunkt des Erscheinens gab es eine dramatische Zuspitzung. Die Angriffe gegen die Politische Polizei, die unter Stieber vielfach das Gesetz verletzte und willkürlich schnüffelte, wuchsen. Der Oberstaatsanwalt von Berlin Schwarck hatte von 1853 bis 1860 einen aussichtlosen Kampf gegen die Übergriffe und Rechtverletzungen geführt, begangen von höheren Polizeibeamten mit Unterstützung der Polizeipräsidenten Hinckeldey und von Zedlitz. Allein vom Juli 1855 bis zum Februar 1856 gab es 387 Fälle willkürlicher und widerrechtlicher Freiheitsentziehungen, oft von Staatsanwälten und Richtern genehmigt.
Kriminalpolizeidirektor Stieber wurde 1860 von Schwarck angeklagt, vom Gericht freigesprochen, aber letztlich vom Dienst suspendiert. In dem Jahr also, in dem er sein Lehrbuch herausbrachte. „Somit ist das Werk und sein Erscheinen ein eigenes Paradoxon“, schrieb 1983 der bekannte Kriminalistikprofessor Armin Forker in seinem Nachwort zur Reprintausgabe des Zentralantiquariats der DDR in Leipzig.
Auch in einem Prozess wegen Ermordung eines seiner Kinder sprach man Stieber wegen Mangel an Beweisen frei. Von 1861 bis 1866 betrieb er privatpolizeiliche Geschäfte für König Wilhelm I. und den russischen Zaren Alexander II., um dann wieder, von Bismarck protegiert, zum Leiter der Geheimen Militärpolizei zu avancieren.