21. Jahrgang | Nummer 21 | 8. Oktober 2018

Keine Tulpen in Amsterdam

von Alfons Markuske, zz. Amsterdam

Auf der Route von Berlin nach Amsterdam liegt Otterlo nicht eben an der Strecke, aber der vergleichsweise geringe Umweg lohnt, wenn er wegen eines Besuches im Museum Kröller-Müller unternommen wird, in jedem Fall. Denn die deutsch-niederländische Kunstsammlerin Helene Kröller-Müller trug ab 1909 nicht nur die zweitgrößte Van-Gogh-Sammlung weltweit zusammen, mit knapp 90 Gemälden und über 180 Zeichnungen, sondern gesellte dieser weitere einzigartige Werke von Malern diverser Epochen bei.
Eine lebensgroße, selbstbewusst-introvertierte Aphrodite (mit Amor) Hans Baldung Griens von 1524/25 zählt zu den ersten weiblichen Aktdarstellungen der europäischen Malerei ohne jede biblische Verbrämung, etwa als „Eva“, wie sie bei Zeitgenossen Griens durchaus noch angesagt war.
Eine Entdeckung im Museum Kröller-Müller für den, der diese niederländischen Maler noch nicht kennt, sind Isaak Israëls und Jan Toorop.
Israëls, geboren 1865 in Amsterdam, verstorben 1934 in Den Haag, ist unter anderem mit seinem Großporträt der „Mata Hari“ von 1916 vertreten. Das Gemälde verschlägt dem Betrachter geradezu den Atem: Der Blick fällt auf eine abwehrend und stolz aufgerichtete junge Frau, die in sich ruht und deren hoch geschlossener dunkler knöchellanger Mantel sie wie wie ein Schutzschild abzuschirmen scheint gegen eine ebenso patriarchalische wie kleingeistig-bornierte Gesellschaft, die sie nur als mehr oder weniger entblößte Femme fatale in einschlägigen Etablissements reüssieren ließ. Und vielleicht im Ersten Weltkrieg ja tatsächlich auch als die deutsche Spionin, als die sie 1917 in Frankreich hingerichtet werden sollte.
Toorop, der 1858 auf Java das Licht der Welt erblickte und diese 1928 in Den Haag wieder verließ, hat 1893 mit „Fatalismus“ eine beeindruckende, düstere Allegorie reinsten Jugendstils erschaffen, die den geneigten Betrachter zu faszinieren vermag.
Leider zeigt die Kröller-Müller-Dauerausstellung nur sehr wenige Werke dieser beiden Künstler, denn die Sammlung hat weitere beeindruckende in ihrem Bestand. Zumindest im Internet werden jedoch sämtliche 4043 Exponate der Kollektion Kröller-Müller präsentiert.

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Amsterdam wird inzwischen jährlich von etwa 18 Millionen Touristen geflutet. Auf 850.000 Einwohner. Das wäre, als würde Berlin statt von 13 Millionen Gästen (2017) von 78 Millionen heimgesucht werden!
Den Amsterdamer Einheimischen jedenfalls ist der Spaß am Tourismus schon länger kein ungetrübter mehr. Die Stadtverwaltung prüft nun Maßnahmen, den Zustrom zumindest abzubremsen. Ob ihr das insbesondere zur jährlichen Tulpensaison im Frühjahr gelingen wird, wenn nicht nur das holländische Nationalgewächs in ganzen Teppichen in Erscheinung tritt, bleibt abzuwarten. Nicht abhalten lassen wird sich wohl auch künftig, wer die Tulpe für eine Krone der Schöpfung hält. Wem das allerdings abgeht oder wer auf den Massenkonsum dieses Liliengewächses verzichten kann, der tut sich Amsterdam zum Beispiel in einem milden Frühherbst an und den Amsterdamern dabei vergleichsweise wenig.
Das bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass er selbst ungeschoren davon käme, denn die Stadtführerin, mit der wir unser Entree bestritten, informierte uns einleitend zunächst über einige Eigentümlichkeiten der Metropole und ihrer Einwohner, die dem uninformiert Zugereisten den Aufenthalt ziemlich gründlich vermiesen können – also ganz von selbst im Sinne der erwähnten Intention der Stadtverwaltung wirken:
Der Amsterdamer ist der Radfahrer schlechthin; Angaben vermelden bis zu 600.000 Fahrräder in der Stadt. Zwar prinzipiell ohne Kopfschutz ist dieser Radfahrer nicht einfach bloß passioniert, sondern zu signifikanten Teilen geradezu fanatisch, mit Ausreißern ins Islamistische. Der versteht keinen Spaß, wenn Pedestrians (alle Holländer sprechen Englisch, weil im regionalen Fernsehen Englischsprachiges weder synchronisiert oder auch nur untertitelt wird) zur Unzeit seinen Kurs kreuzen oder sich gar auf seinem sakrosankten markierten Radweg tummeln. Frevler müssen dann damit rechnen, en passant mit einem steil ausgefahrenen Ellenbogen rüde beiseite geräumt zu werden. Kommen sie dabei zu Fall, ist mit Erster Hilfe seitens des Pedalrowdys nicht zu rechnen. Der Radfahrer wird daher in Amsterdam gern auch „der stille Tod“ genannt.
Grünphasen von Fußgängerampeln währen auch auf breiteren Straßen, gefühlt, sechs Sekunden. Das akustische Ampelsignal während dieser Sekunden – im Stakkato eines nur in der Lautstärke leicht gedimmten Maschinengewehrs – treibt zur Eile, und es ist dringend anzuraten, sofort in eine katatonische Schockstarre zu verfallen und keinesfalls mehr den Fahrweg zu betreten, wenn das noch grüne Ampelmännchen zu blinken beginnt. Es springt dann sogleich auf Rot um, und in diesem Augenblick legen sämtliche PKWs, der ÖPNV und natürlich alle Radfahrer unisono sehr dynamisch los. Doch auch wenn eine Fahrbahn glücklich in time überquert ist, lauert dahinter vor dem Trottoire oft noch ein völlig unbeampelter Radweg, auf dem auch Motorroller angepfiffen kommen können … (Allerdings scheint den Velojüngern zumindest ein Grundgefühl für das Selbstgefährdungspotenzial der von ihnen bevorzugten Fortbewegungsweise nicht gänzlich abzugehen: Kinder auf Fahrrädern sieht man auf Amsterdams innerstädtischen Radwegen so gut wie keine.)
Apropos ÖPNV – der Tourist, der für vier Tage Aufenthalt ordentlich sein Sammelticket für Euro 22,50 erworben und dieses beim ersten Einsteigen am vorgesehenen Kontakt vorbeigeführt hat, was ihm durch einen Signalton angezeigt wird, dürfte beim zweiten Einsteigen wie vom Donner gerührt sein, wenn ihm der Signalton und damit der Zustieg verweigert werden. Denn worüber ihn nichts und niemand, und schon gar nicht der Verkaufsautomat, an dem der Erwerb stattfand, informiert hat, weil das natürlich jeder Amsterdamer weiß: Das Ticket muss auch beim Ausstieg stets am vorgesehenen Kontakt vorbeigeführt werden. Ansonsten verfällt es…
Cannabis ist in Amsterdam zwar legal verkäuflich, hält aber eine weitere böse Touristenfalle parat. Der erwartete Rausch muss sich nämlich keinesfalls zwangsläufig einstellen. Außerhalb der für den eigentlichen Grasverkauf lizensierten Coffee Shops gehandelte Produkte wie Cannabis-Muffins, -Lollies und ähnliche „Trägersubstanzen“ haben zwar durchaus ihren Preis und den typischen Geschmack, sind hingegen völlig frei von Tetrahydrocannabinol (THC), dem halluzinogenen Wirkstoff … (Allerdings genügt es bisweilen vollauf, kräftig durchzuatmen, wenn man bei gemächlichen Spaziergängen durch Gassen und Parks eine entsprechende Rauch- und Duftwolke passiert.)
Und last but not least – Homosexualität steht in den Niederlanden zwar schon seit 1811 nicht mehr unter Strafe, das heißt bei aller Liberalität nun aber nicht, dass es keine Diskriminierung im öffentlichen Raum mehr gäbe. Herren-WCs etwa (mit einem Standard wie im 19. Jahrhundert) sind im Weichbild der Stadt durchaus zu finden. Solche für das schöne Geschlecht hingegen sucht man bis heute vergebens …

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Wer über Amsterdam und seine Einheimischen all dies – was jedoch, unserer Stadtführerin zufolge, so für den Rest des Landes nicht oder zumindest nicht in Gänze gelten soll – schon mal zur Kenntnis genommen hat, der sollte seine Stadtführung anschließend gleich noch auf Amsterdams Hauptplatz, dem Dam, beginnen – und zwar am besten an dem vis-à-vis dem früheren Rathaus und heutigen Schloss errichteten, 22 Meter hohen Obelisken, dem Nationalmonument der Oranjes. Das offenbart implizit Aufschlussreiches über die Niederländer als solche, die, wie andere Nationen mit einschlägiger Täterhistorie, bis zum heutigen Tage eine höchst eingeschränkte Gedenkkultur pflegen, die einen an Nietzsches Diktum denken lässt, wonach Völker genau so lange edel seien, wie sie unterdrückt würden: Das Mahnmal, eingeweiht durch die damalige landeseigene Königin Juliana am 4. Mai 1956, wurde nämlich zu Ehren der niederländischen Opfer des Zweiten Weltkriegs errichtet – Opfergruppen wie Homosexuelle und Juden inbegriffen. Für niederländische Opfer anderer militärischer Konflikte allerdings, bei denen Holländer überwiegend als Täter in Erscheinung traten – wie etwa im brutalen Kolonialkrieg in Indonesien von 1945 bis 1949 mit seinen zahlreichen Massakern und Massenexekutionen – wurde bisher kein Monument in Amsterdam errichtet.

Wird fortgesetzt.