21. Jahrgang | Nummer 17 | 13. August 2018

Von unten auf!

von Heino Bosselmann

Demokratie begann von unten. Etwa auf der Agora der griechischen Poleis. Dort erlebte man sich, dort sprach man miteinander, und in der Volksversammlung entschied man. Es kam auf das Wort, auf die Rede, auf die Rhetorik an, mithin auf Argumente und qualifizierte Urteilskraft, die genauer Kenntnisse, aber auch charismatischen Ausdrucks bedurften. Politik war als kultivierter Konflikt eine innere Angelegenheit der Bürger, aber ebenso äußeres Erlebnis in Augenscheinlichkeit.
Der neuzeitliche Verwaltungsstaat, in den mittelalterliche Herrschaften hinüberwuchsen oder in den sie mit revolutionärem Ruck überführt wurden, versachlichte unter den Maßgaben der Vernunft zwar Entscheidendes, aber gerade die Legislative blieb, wo sie was zu sagen hatte, lebendig und turbulent wie einst die Agora; man stritt und fetzte sich, man empfand die gemeinsame Verantwortung für das Konkrete und für den zu vertretenden Menschen. Politik, das war Gestaltung in Leidenschaft: „We the People …“
Die Bundesrepublik übernahm im Beitrittsgebiet zwar das Erbe einer Diktatur; aber die war gerade in ihrer durchaus provinziellen Verwaltungsstruktur eher vom preußischen Erbe geprägt – unter anderem in Gestalt einer Vielzahl übersichtlicher Landkreise, in denen – im Wortsinne – mit Augenmaß entschieden werden konnte, wenngleich das jahrzehntelang vormundschaftlich geschehen war. Gerade im hoffnungsvollen demokratischen Neubeginn erschien hier Subsidiarität möglich. Je weiter sich jedoch der demokratische Impetus erschöpfte und je deutlicher das Zusammenleben dem Ökonomismus der herübergeschickten Lokatoren unterworfen wurde, umso mehr schwand die gerade erst belebte politische Lebendigkeit – eindrucksvoll anzuschauen am Rückgang der Wahlbeteiligung, insbesondere in den Kommunen und Kreisen.
Verwaltungswissenschaftler und Controller rechneten seit der Wende neunmalklug vor, dass es zu viele Landkreise gäbe, viel zu viele. Man könne, ach man müsse immense Kosten sparen. Am besten, indem man größere Einheiten schaffe, viel größere, in Mecklenburg-Vorpommern gleich mehrfach von der Fläche des Saarlandes. Andere Bundesländer im Osten vergrößerten oder nivellierten ähnlich; nur in Thüringen lief diese problematische Reißbrett-Planung nicht glatt durch. Vermutlich für dieses Bundesland ein Segen. Denn mittlerweile ergab sich, was zu erwarten war: Entgegen den Verheißungen konnten eben keinerlei Kosten gesenkt werden, wie die Niederlassung des Dresdener Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und das Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung Mannheim gerade nachwiesen.
Die Schaffung der Mega-Landkreise von Bundeslandgröße änderte nun mal nichts an der Anzahl der Bauanträge und Kfz-Zulassungen, und sie konnte insbesondere den größten Kostensektor, die Transferleistungen in der Sozial- und Jugendhilfe, überhaupt nicht verringern. Studienleiter Felix Rösel zeigte, dass das Argument, die Fusionen der Landkreise reagierten wirksam auf das höhere Durchschnittsalter, nicht zutrifft, übernähmen die Kreise doch vor allem die Ausgaben für jüngere Leute, also für Schulen, Jugendhilfe und Kitas, während Ausgaben für Ältere – Renten, Pflegeleistungen, Grundsicherung bei Erwerbsminderung – von der Sozialversicherung und vom Bund getragen würden. „Zumindest auf kommunaler Ebene ist die Alterung der Gesellschaft eher mit sinkenden Ausgaben verbunden“, stellte Rösel klar. Die Pro-Kopf-Ausgaben der Kreise seien für Unterachtzehnjährige vier- bis fünfmal so hoch wie für Einwohner über dreißig.
Der Forscher verwies auf einen weiteren Zusammenhang, jenen zwischen Pro-Kopf-Ausgaben und Einwohnerdichte. So verringere zunehmende Siedlungsdichte die Ausgaben zwar drastisch, aber genau die ist im Osten eben nicht hoch, sondern signifikant gering.
Blieben die rein quantitativ erhofften Gewinne der Kreisgebietsreformen also völlig aus, so ergab sich fatalerweise ein qualitatives politisches Problem, denn mit der Überdehnung der Kreisgebiete nahm die Identifizierung der Bürger mit ihrem Landkreis erheblich ab. Die Beteiligung an den Kreistagswahlen ließ dramatisch nach; gleichzeitig stieg schon vor der AfD-Gründung und der Flüchtlingskrise der Stimmenanteil für Rechte und Ultrarechte, die als einzige Kraft auf den offiziell allzu verpönten Begriff der Heimat setzen.
Kaum jemand kennt noch die Abgeordneten seines Kreistages, die ihrerseits immer größere Gebiete zu betreuen haben und lange Strecken unterwegs sind. Durch die technokratisch erzeugte Zentralisierung, die einer lebendigen Demokratie noch stets zuwiderlief, sind Überschaubarkeit und Bürgernähe irreversibel dahin, insofern ein Rückbau der Fusionen nicht möglich erscheint. Wo sich aber der Staat und das Politische aus der Fläche zurückzögen, so Rösel, verließen alltagskulturell wichtige Einrichtungen wie Läden, Cafés und die Poststellen die Kommunen.
Gerade die beliebten regionalisierten Kfz-Kennzeichen mit den einstigen Heimatkreis-Kürzeln zeigen an, wie groß das Bedürfnis nach Identifizierung mit der eigenen Region ist. Obwohl die nostalgisch wirkenden Schilder mehr als die neuen Standardvarianten kosten, zahlen die Leute genau dafür gern drauf.