21. Jahrgang | Nummer 17 | 13. August 2018

Im Marschband – 1968

von Heinz W. Konrad

Vor allem wenn man jung ist, neigt man dazu, Warnschüsse, die das Leben abfeuert, erhaben zu ignorieren. Man weiß von diesem Leben halt noch zu wenig, dafür aber weiß man alles besser. Vielleicht ist mir deshalb erst spät klar geworden, dass mit dem derzeit so durchfeuilletonierten Jahr 1968 auch für mich, den 20 Jahre zuvor Geborenen, viel mehr Nachhaltiges verbunden war, als ich dies lange Zeit vermeinte.
Nicht dass meinesgleichen die Rassenunruhen in den USA seinerzeit nicht berührt hätten. Versteht sich auch, dass wir mit der Revolte der Studenten westlich der Elbe und jenseits der Berliner Mauer schon allein generationssolidarisch sympathisierten, was diesmal sogar mit der amtlichen Ideologie kompatibel war. Dass indes von diesem Widerstand gegen das Establishment der Altvorderen samt ihrer unaufgearbeiteten oder verlogenen Lebensläufe wiederum nur sehr wenig auf uns selbst abfärbte, ist doch verwunderlich, wiewohl es das Führungspersonal der DDR sehr erleichtert haben dürfte.
Nur scheinbar ähnlich verhielt sich das Erleben jenes Jahres mit dessen zweiten politischen Erregungspotenzial, dem Einmarsch von Truppen der Warschauer-Vertrags-Staaten in die Tschechoslowakei zwecks Unterbindung einer Demokratisierung des Landes über den moskowitischen Verständnishorizont hinaus. In der NVA, bei der ich seinerzeit meinen „Ehrendienst“ zu leisten hatte, war man vor allzu viel Begeisterung für den „Prager Frühling“ freilich gut geschützt. Das isolierte Dasein in den Kasernen bei einer übersichtlichen Zahl von Ausgängen und Urlaubstagen sowie der erheblich eingegrenzte Zugang zu nichtamtlichen Informationen bewirkten das Ihre. Dennoch waren wir auf dem Laufenden, da das Verbot des Hörens von Westsendern ebenso konsequent erhoben wie unterlaufen wurde.
Dass ein militärisches Eingreifen des Ostblocks geschehen könne, hatten wir allerdings nicht für möglich gehalten. So wenig geliebt die NVA bei den meisten der Wehrdienstleistenden auch war – der Einsatz von Militär in „Freundesland“ gegen die dortige Bevölkerung schien uns wegen der Unmöglichkeit, das friedliche Selbstverständnis noch einmal so zu konterkarieren wie einst in Ungarn, doch ausgeschlossen. Umso ernüchternder fiel der Alarm aus, der auch unser Nachrichtenbataillon am Berliner Südrand am frühen Morgen des 21. August aus nicht nur solcherart Träumen riss. Dass der organisatorische Ablauf dessen, was folgte gemessen an den einschlägigen Vorgaben eine ziemliche Katastrophe war, sei nur am Rande erwähnt. Gravierender war wohl, dass die Funker, nachdem sich im Marschband auf der Straße vor der Kaserne stundenlang nichts tat, die zugewiesene Frequenz ihrer UKW-Geräte verließen und auf Empfang bei denen gingen, die den Äther in seriöser oder hysterischer Art mit Informationen und Meinungen überschwemmten. Die Sendeanlagen von SFB und RIAS befanden sich schließlich quasi vor der Haustür; eine fürwahr kafkaeske Situation …
Zum Glück – kurz vor Abend war die Entscheidung gefallen, dass die 1. Mot-Schützen-Division, deren nachrichtliches Bindeglied wir waren, nicht gen Südosten zu rücken hatte. Die Erleichterung darüber hielt sich indes in Grenzen. Wochenlang mit der geladenen MPi am Bett zu schlafen, war kein Anlass zu wirklicher Beruhigung. Die Angst vor dem Ernstfall, in den man verwickelt sein würde, blieb noch lange. Was sogar wuchs, war die Entfremdung vieler Waffenrockträger von jenem Staat, auf den sie vereidigt worden waren. Offiziere, die während der knapp dreimonatigen Zeit der „Gefechtsbereitschaft“ verpflichtet waren, in der Kaserne zu bleiben, taten dafür ein Übriges. Von den allermeisten dieser Vorgesetzten, vollzählig zur SED gehörend, waren wir eh gewohnt, dass sie sich um Diskussionen mit Soldaten drückten; in der Regel war man darüber nicht böse. Nun, da auch ihnen wochenlang der nachmittägliche Fluchtweg nach Hause verlegt war, bewiesen zumindest einige von ihnen ihre „politisch-ideologische Wachsamkeit“ auf spezifische Weise. Erstmals seit langem auf das Kasernendasein zurückgeworfen, setzte es Denunziationen.
Dem Autor dieser Zeilen, der – damals einziges SED-Mitglied unter den Soldaten der Kompanie – wurde zum Beispiel eine Einladung zur Sicherheitsabteilung des Kasernenobjektes zuteil. Um seine Mitsoldaten vom Westradio wegzulocken, hatte er durch die bataillonsinterne Beschallungsanlage, die er betrieb, mehr konservierte Westmusik vom Band laufen lassen als erlaubt … Die folgende Drohung, das avisierte Journalistik-Studium wegen politischer Unreife zu verhindern, wurde – in diesem Falle – später nicht wahr gemacht, die daraus erwachsene Beklemmung blieb lange. Noch mehr wurde sie befördert, als gerade jener Solitär unter den „Genossen“ Soldaten per Parteiverfahren von denen sanktioniert wurde, die ihn denunziert hatten.
Freilich, das hätte eigentlich als Warnung genügen müssen. Und in Form der folgenden Ablehnung verlangter politischer „Vorbild“-Aktivitäten hatte dieser 21. August auch Wirkung hinterlassen, allerdings keine konsequente. Denn Gott – ich war gerade mal 20, hatte zuvor Besseres erlebt und gab mich damit zufrieden, hier jene Ausnahme erlebt zu haben, die es bekanntlich immer und überall gibt. Immerhin war dieses Erlebnis der Anfang vom Ende des instinktiven Vertrauens in zumindest das Personal des Realsozialismus. Auch wenn dieses Personal doch noch einiges zu leisten hatte und sich redlich darum bemühte, bis sich das Vertrauen auf Dauer erledigt hatte.