21. Jahrgang | Nummer 16 | 30. Juli 2018

Fallada schreibt an seine Geschwister

von Mathias Iven

Briefe, die innerhalb einer Familie geschrieben werden, haben nicht nur eine eigene Sprache, sie befassen sich oftmals auch mit Dingen, die nicht für Außenstehende gedacht sind …*
Hans Fallada, vor 125 Jahren am 21. Juli 1893 als Rudolf Ditzen in Greifswald geboren, nahm erst sehr spät den regelmäßigen Briefverkehr mit seinen Geschwistern auf. Im Dezember 1928 liegt schon ein halbes Leben mit Höhen und Tiefen hinter ihm. Wechselnde Arbeitsstellen, Alkohol, Drogen, Entziehungskuren – die Veröffentlichung der ersten beiden Bücher. Gerade hat er eine zweijährige Haftstrafe wegen Veruntreuung in Neumünster verbüßt. Jetzt will er ein neues Leben beginnen. „Ich habe mich in den letzten Jahren geändert, und ich wäre Euch so dankbar, wenn Ihr es noch einmal mit mir versuchen wolltet.“ Mit diesen Worten wendet er sich an seine fünf Jahre ältere Schwester Elisabeth. Und die gleichfalls ältere Margarete bittet er um die Erlaubnis, „in Zukunft dann und wann einmal […] schreiben“ zu dürfen. Die beiden Schwestern – der jüngere Bruder Uli ist mit 22 Jahren im August 1918 in Frankreich gefallen – reagieren umgehend. Sie machen ihm keinerlei Vorhaltungen. „Wir wollen doch lieber nur an die Zukunft denken“, so Elisabeth, „die Vergangenheit ist Deine Sache, und offen gestanden, wir meinen, dass zwischen uns von ,Vergeben‘ nicht die Rede sein sollte.“
Und tatsächlich. Fallada schafft es, sich eine Existenz als Schriftsteller aufzubauen. 1931 erscheint Bauern, Bomben, Bonzen, sein erster großer Roman, im Jahr darauf folgt Kleiner Mann – was nun? Fallada, mittlerweile verheiratet und Vater von zwei Kindern, verdient gut mit seinen Büchern. Im mecklenburgischen Carwitz findet er schließlich auch den Ort, an dem es sich, fernab der Großstadt, leben und arbeiten lässt. Mitte Oktober 1933, „vier Tage nach dem Einzug“, berichtet er Elisabeth von „Orgien der Pedanterie“: „Eher kann ich nämlich nicht arbeiten, ehe ich nicht weiß: auch der letzte Fleck ist in Ordnung.“
Als schließlich alles an seinem Platz ist, beginnt er mit der Arbeit an seinem nächsten Roman. Wer einmal aus dem Blechnapf frißt, 1934 veröffentlicht, ist mit seiner Sozialkritik ein Dorn im Auge der neuen Machthaber. Auch die Kritiker stellen sich gegen ihn. Hermann Hesse allerdings spricht sich für den Roman und seinen Autor aus: letzterer sei „als sachlicher, genauer Schilderer des Alltags in dieser Unterwelt […] ein nicht nur liebenswerter, sondern auch ein wichtiger, ein notwendiger Schriftsteller“. Innerfamiliär äußert sich der mit Margarete verheiratete Rechtsanwalt Friedrich Bechert: „Ob das Buch etwas für die große Menge ist, kann man schwer beurteilen. Auf jeden Fall sollte aber jeder Jurist das Buch in Ruhe und mit Ernst lesen. […] Wie die Gegenwart sich mit dem Buch abfinden wird, ist ein Problem.“ Und Margarete selbst ist der Auffassung, wie empörend es sei, „dass sie mit Deinen Büchern nicht mehr Tam-Tam machen – aber ich bin überzeugt, sie überdauern. Zu aller andern vielgepriesenen ,neuen‘ Literatur des 3ten Reiches bekomme ich absolut keine Fühlung.“
Im September 1935 teilt die Reichsschrifttumskammer Fallada mit, dass er nunmehr als „unerwünschter“ Autor eingestuft sei und seine Bücher lediglich in Deutschland erscheinen dürfen. Mit Blick auf all die Kollegen, die das Land bereits verlassen haben, denkt auch er darüber nach. Am 20. September schreibt er an Margarete: „Von sachkundiger Seite ist uns zur genehmigten Auswanderung, etwa nach England oder Dänemark, geraten worden, was allerdings Preisgabe alles hier Errungenen bedeutet.“ Das „Errungene“ ist die eine Seite, hinzu kommt jedoch vor allem „der Gedanke, was ich in einem fremden Land eigentlich soll. Schließlich bin ich so deutsch wie nur möglich, ja, eigentlich habe ich mich zeit meines Lebens immer nur in Norddeutschland wirklich wohl gefühlt“ – und auch Falladas Frau geht es nicht anders.
Trotz der widrigen Umstände bleibt der Schriftsteller. Er schreibt ein Buch nach dem anderen: Altes Herz geht auf die Reise (1936), Wolf unter Wölfen (1937), Der eiserne Gustav (1938) – und noch einiges mehr. „Plötzlich, nicht einmal über Nacht, sondern während meines Nachmittagsschlafes, ist mir der Gedanke gekommen, eine Art Jugenderinnerungen zu schreiben“ – die Idee zu Damals bei uns daheim hat Fallada im April 1941. Bei Elisabeth fragt er an, ob sie ihn „mit Stofflieferungen unterstützen“ kann. „Was ich suche, sind“ – in der Sprache des aus dem Niedersächsischen stammenden Vaters – „Döneckens“, also allerlei „Rosenrotes und Amüsantes“. Mit großer Freude sagt die Schwester zu. Allerdings, so warnt Fallada, beabsichtige er „keine genauen Porträts“ zu schreiben. Er wolle über Themen „fabulieren“ und „stehle auch schamlos Kindheitserlebnisse von andern, pointiere, drehe um – ganz wie es der Fortlauf der Handlung und vor allem die Spannung verlangen“. Ende Mai geht das Manuskript an die Mutter, die es „mit einer gewissen Begeisterung“ liest, im Juli 1941 ist der Vorabdruck in der im längst arisierten Ullstein-Verlag erscheinenden Zeitschrift „Die Dame“ unter Dach und Fach. Nicht einmal ein Jahr später schließt Fallada den zweiten Teil der Erinnerungen ab. 1943 – es gibt, klagt Fallada, „kaum noch Papierbewilligungen für die Buchherstellung und der Abdrucksraum in Zeitungen und Zeitschriften [wird] immer beschränkter“ – erscheint Heute bei uns zu Haus im Rowohlt Verlag.
In einem seiner letzten, im Februar 1946 an Margarete und ihren Mann gerichteten Schreiben schaut Hans Fallada wehmütig noch einmal auf die vergangene Zeit zurück: „Ich führe ein sehr anderes Leben als früher, immer in Kontakt mit andern Menschen, muss es schon tun, kann es auch, sehne mich freilich oft nach meinem beschaulichen Dasein in Carwitz und meiner stillen Romanschreiberei zurück.“
Falladas Sohn Achim Ditzen hat von den über 1000 erhaltenen Briefen der geschwisterlichen Korrespondenz rund 200 Stücke für die jetzt vorliegende Veröffentlichung ausgewählt. Alles in allem eine Briefausgabe, die bisher unbekannte Facetten von Falladas familiärem Beziehungsgeflecht zeigt und sich so spannend wie seine Romane liest.

Hans Fallada: „Ohne Euch wäre ich aufgesessen“ – Geschwisterbriefe (herausgegeben von Achim Ditzen), Aufbau Verlag, Berlin 2018, 473 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, 26,00 Euro.

* – Dass der Eingangssatz mit einer Besprechung des Autors in der vorangegangenen Blättchen-Ausgabe übereinstimmt, ist beabsichtig, denn rezensiert wurden ebenfalls Geschwisterbriefe – von Brigitte Reimann.