von Joachim Lange
An der Oper in Stuttgart wurde Toshio Hosokawas neue Oper „Erdbeben. Träume“ in einer Inszenierung von Jossi Wieler und mit Sylvain Cambreling am Pult uraufgeführt.
Postapokalyptische Inszenierungen von Opern passen in unsere Zeit. Das Genre, das einst der festlichen Verherrlichung der Mächtigen diente, ja ein glückliches Ende vorschrieb, ist längst zum Feld für die Selbstvergewisserung der Beherrschten geworden. Bei Werken von Rang ist das subversive Potential zur Kollision mit bestehenden Verhältnissen der Musik und den Geschichten eingeschrieben. Die lotende Aus- oder auch Umdeutung sind daher ein gängiges Mittel, um sich eine Kunstform der Vergangenheit anzueignen, Prophetisches aufzuspüren und so Zeitgenossenschaft herzustellen. Auch an der Oper in Stuttgart ist das so. Exemplarisch war dafür etwa Calixto Bieitos „Parsifal“-Interpretation von 2010, in der der Gral zum Restmüll einer postkatastrophischen Endzeit wurde und die Ritter unter einer – von Cromac McCarthys Roman „The Road“ inspiriert – zerstörten Autobahnbrücke vegetierten …
Im Falle von Toshio Hosokawas Novität „Erdbeben. Träume“ ist die Katastrophe gleich das Thema der Geschichte und bestimmt das Atmen der Musik. Hier liefert der Rauch über den Trümmern der Zerstörung die Atmosphäre. In der dunklen Poesie der Worte, im unerbittlichen Rausch der Musik, in der metaphorischen Trostlosigkeit der Szene. „Erdbeben. Träume“ ist nach „Vision of Lear“ (1998), „Hanjo“ (2004), „Matsukaze“ (2011) und „Stilles Meer“ (2016) die fünfte Oper des Japaners. Diesmal erweist er sich nicht nur als ein Virtuose der kontemplativen Innerlichkeit, sondern auch als Meister packender Ausbrüche. Was natürlich zum Thema passt, bei dem es um die Wucht eines Erdbebens und eines Tsunamis geht, und bei dem zusätzlich eine Masse von Menschen zu einem mörderischen Mob wird, dem vier von Ihresgleichen zum Opfer fallen. Die dazwischen eingeschobenen, gesprochenen Passagen unterbrechen diesen Klangrausch, verstärken allerdings den Eindruck der Musik nicht wirklich.
Für sein Libretto hat sich der Büchner- und Kleist-Preisträger Marcel Beyer von Heinrich von Kleists dramatischer Novelle „Das Erdbeben von Chili“ aus dem Jahre 1807 anregen lassen, sie aufgenommen und zu etwas Eigenem gemacht. Auch wenn das Muster der Vorlage durchscheint.
Es gibt zwei Elternpaare. Josephe und Jeronimo sind in verbotener (Schülerin-Lehrer-)Liebe verbunden. Elvire und Fernando sind ein Ehepaar. Constanze ist Elvires jüngere Schwester. Pedrillo ist in der Oper vor dem Beben ein Wachmann und danach ein Demagoge, der ein Massaker anzettelt. Hinzu kommt als stumme, dauerpräsente Hauptfigur Philipp – der Sohn von Josephe und Jeronimo. Seine Adoptiveltern Elvire und Fernando vergegenwärtigen für ihn das Geschehen und die Katastrophe, denen Philipp seine Existenz verdankt. Am Ende sind Josephe und Jeronimo und Constanze und ein Säugling tot. Philipp hört plötzlich die Stimmen seiner leiblichen Eltern als Geisterstimmen.
Die Szenenfolge spielt assoziativ jenseits der zeitlichen Abläufe mit diesen Konstellationen. Der Zuschauer kann und muss dabei nicht in jedem Augenblick den Überblick behalten.
Die Stuttgarter Uraufführung haben die Künstler ins Werk gesetzt, die insgesamt die jetzt zu Ende gehende Intendanz von Jossi Wieler ästhetisch geprägt haben: Der Hausherr Jossi Wieler und sein jahrelanger Dramaturg und Regiepartner Sergio Morabito haben Regie geführt. Anna Viebrock hat dazu eine ihrer genialen Parallelwelten erfunden. Und der in den letzten Jahren in Stuttgart prägende Dirigent Sylvain Cambreling hat beim Staatsorchester Stuttgart, dem hauseigenen Chor und den handverlesenen Solisten dafür gesorgt, dass sie sich auf dem für das Haus üblichen und oft ausgezeichneten Niveau des Neuen annehmen. Die Solisten Esther Dierkes (Josephe), Dominic Große (Jeronimo), Sophie Marilley (Elvire), André Morsch (Ferando), Josefin Feiler (Constanze), Torsten Hofmann (Pedrillo), Benjamin Williamson (Anführer der sadistischen Knaben) und Sachiko Hara (Philipp) machen ihre Sache ebenso wie der Chor und der Kinderchor stimmlich und darstellerisch großartig.
Dabei geht es um ein Werk, das nicht davor zurückschreckt, bewusst jenem Lebensoptimismus entgegenzutreten, der meint, dass es schon nicht so schlimm kommen werde, wie es uns so mache cineastische Vision einzureden oder auch nüchterne Prognosen vorzurechnen versuchen. Hosokawas Oper lässt den Kollaps der Natur, wie wir sie kennen, und den Rückfall in die Barbarei (den ja selbst der notorische Optimist Marx für eine Möglichkeit der Menschheitsentwicklung hielt) als Option aufscheinen. Weil er auch noch die Töne und akustischen Irritationen und das Regieteam obendrein die entsprechenden Bilder dafür finden, erzeugt der Abend eine Art von Betroffenheit, von der man sich erst wieder lösen muss. Wie das Ganze über die dunkle Poesie, rätselhafte Bilder und eine raunende und ein paarmal in gewaltigen Orchestertutti ausbrechende Musik seine Wirkung erzielt und nicht auf den Empathieeffekt von nachvollziehbar erzählten Einzelschicksalen beruht, macht die sperrige Eigenart dieses Kunstwerkes aus.
Die Bühne ist Raum gewordener schwankender Grund. Die Bewegung ist die Katastrophe des Titels. Verweise auf verschüttetes Inneres entlarven den zweiten Teil des Titels „Träume“ als Irreführung – es sind Alpträume über das Ende von allem, was ist. Da ist kein Raum für melodische Ausbrüche, nur für das Donnern der Zerstörung. Die Musik ist chromatisch, geschichtet, von Wassertropfen, Wind- oder Atemgeräuschen durchsetzt. Manchmal erinnert der Duktus der Musik an die Bedrohlichkeit jenes „Der Kaiser muss versteinern“ aus der „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss. Vielleicht liegen ja dieses Monument spätromantischen Nachhalls und das auch japanisch geprägte musikalische Denken von Hosokawa gleichsam auf einer tektonischen Spalte. Sätze wie der von Pedrillo, „wenn wir zu Boden gehen, auf einen Riss hinzeigend, in der Zeit, weil uns die Wirklichkeit in diesem Spalt zwischen Erinnerung und Gegenwart zerreibt“, mit dem er auf das „Wenn wir die Arme gegen einen leeren Himmel heben“ des Chores antwortet, dann wirkt das durchaus ganz elementar nach.
Die Inszenierung rückt das auf 18 Szenen verteilte Geschehen natürlich auch immer wieder ins Wiedererkennbare. Wenn das wortlos pantomimisch agierende Kind von Josephe und Jeronimo Philipp seine Kindheit imaginiert, stumm schreit oder kopfüber ins Innere der Erde verschwindet. Oder wenn sich die Masse zur mörderischen Meute zurückentwickelt, weil ihr ein Demagoge mit dem Megaphone die Losungen vorgibt. Und sie sich selbst aufgibt, wenn sie vor den Kindern nicht haltmacht.
Dieser herausfordernde Katastrophen-Opernabend denkt die Welt, wie sie heute ist ein Stück weiter. Von Fukushima bis Trump kommt alles vor. Die alte Erkenntnis, dass die Firnis der Zivilisation dünn ist und schnell reißen kann, auch. Wenn man dann in der lauen Sommernacht nach der Premiere die neuesten Nachrichten über das kleine, künstlich herbei geführte politische Erdbeben zwischen München und Berlin liest, wirkt das nach diesem Abend vergleichsweise harmlos.
Schlagwörter: Joachim Lange, Oper, Stuttgart, Toshio Hosokawa