von Ulrich Busch
Handel zu treiben ist meistens ein gutes Geschäft. Außenhandel erst recht. Dies gilt ganz besonders, wenn der Staat in die Geschäfte eingreift und auf diese Weise die eigene Wirtschaft zu fördern versucht. Das wusste man bereits im Mittelalter. Spätestens mit dem Merkantilismus, einer wirtschaftspolitischen Doktrin im 17. und 18. Jahrhundert, welche auf Exportüberschüsse orientiert, wurde ein derartiges Vorgehen für mittelgroße und kleine, aber wirtschaftsstarke Staaten zur herrschenden Wirtschaftsdoktrin.
So besitzt das merkantilistische Denken auch in Deutschland eine längere Tradition. Im Grunde genommen bestimmt es bis heute die Außenhandels- und Wirtschaftspolitik. Und das nicht ohne Erfolg. Ein Ergebnis dieser Politik sind die regelmäßigen Exportüberschüsse und eine infolgedessen aktive Handels- und Leistungsbilanz. Stofflich betrachtet bedeutet dies, dass in Deutschland Jahr für Jahr mehr Güter und Leistungen erzeugt werden, als die Inlandsnachfrage zu absorbieren vermag. Das Bruttoinlandsprodukt übersteigt also den Umfang des inländischen Verbrauchs, einschließlich des Imports. Ein Teil der produzierten Güter und Leistungen wird ins Ausland exportiert und findet dort seine Nachfrage.
Übersteigt das Volumen der Exporte den Umfang der importierten Güter, so entsteht ein Exportüberschuss, der als Leistungsbilanzüberschuss erscheint. 2017 umfasste der Leistungsbilanzüberschuss der Bundesrepublik Deutschland die Summe von 262,5 Milliarden Euro. Das sind rund acht Prozent des produzierten Inlandsprodukts (BIP). In den Vorjahren war die Situation ähnlich, so dass sich in den internationalen Handels- und Leistungsströmen im Zeitverlauf eine gewaltige Schieflage aufgebaut hat, die heute ein Grund zur Besorgnis und Anlass für Handelsstreitigkeiten ist.
Eine besondere Facette dabei bildet die Finanzierung. Dazu muss man wissen, dass der Außenhandel, von wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel Frischfleisch abgesehen, finanziell über komplizierte Kredit- und Verrechnungsverfahren abgewickelt wird. Das heißt, die aus dem Export resultierenden Forderungen werden weder sofort noch direkt beglichen, sondern über internationale Institutionen und spezielle Zahlungsverfahren realisiert. Im Euro-Raum geschieht dies mit Hilfe des „Target2-Systems“ der Europäischen Zentralbank (EZB).
In den ersten Jahren der Währungsunion pendelten die Target-Salden um Null. Forderungen und Verbindlichkeiten glichen sich im Zeitverlauf also aus. Kommt es jedoch, wie seit 2008 der Fall, zu größeren Verwerfungen in den Wirtschaftsbeziehungen der Euro-Staaten und kauft die EZB zudem in größerem Umfang Anleihen der Schuldner-Staaten an, so bilden sich kumulativ Salden, die für die Gläubiger faktisch eine Kreditgewährung und für die Schuldner die unverzinsliche Inanspruchnahme von Krediten darstellen.
Auch das wäre noch kein Problem, sofern die Größenordnung überschaubar bliebe. Der Target2-Saldo aber beläuft sich für Deutschland gegenwärtig auf eine Summe von +976,3 Milliarden Euro (Juli 2018). Für andere Länder, zum Beispiel in Italien, Spanien und Griechenland, wachsen hingegen Monat für Monat die Defizite. Hinter diesen Zahlen vermuten Experten nicht nur Leistungsbilanzdefizite, sondern auch eine zunehmende Kapitalflucht aus den Defizitländern.
Solange das Euro-System funktioniert, stellt dies alles zwar ein Problem dar, aber noch keine wirkliche Gefahr. Sollte einer der Schuldner-Staaten jedoch aus der Währungsunion austreten, so müsste die EZB ihre Forderungen an dieses Land sofort fällig stellen. Da die Verbindlichkeiten die Reserven der betreffenden Notenbanken allerdings übersteigen, müsste die EZB die dann fälligen Forderungen wohl abschreiben – und Deutschland folglich seine Guthaben.
Ein Auseinanderbrechen der EU würde für Deutschland folglich unabweisbare Verluste mit sich bringen. Und je höher die Target-Forderungen Deutschlands sind, umso größer wären diese Verluste. Folgt man hier der FAZ, so sitzt Deutschland „auf einer Bombe“, die jederzeit hochgehen kann.
Wie geht man nun mit diesem zweifellos existierenden Risiko aber um? Neoliberale Euro-Gegner sprechen von einer „Target-Falle“, in welcher Deutschland sitzen würde und aus der es kein Entkommen gäbe. Hans-Werner Sinn etwa behauptet, Deutschland sei jetzt durch Länder wie Griechenland und Italien „erpressbar“ geworden und die Deutschen würden von den Krisenländern ausgenommen „wie eine Weihnachtsgans“. Die AfD-Ökonomin Alice Weidel setzt noch eins drauf, indem sie Deutschland zum „Zahlmeister“ Europas und zum „Opfer der Südländer“ stempelt. Sie glaubt, mit Hilfe des Target-Systems sei es Euro-Ausländern möglich, Produkte deutscher Unternehmen kostenlos zu erwerben. Das funktioniere wie bei einem Geschäftsmann, der morgens seinen Kunden Bargeld auszahle, um sich abends über die Umsätze zu freuen, die mit diesem Geld getätigt worden seien. Deutschland würde danach seine Exporte ins Ausland selbst finanzieren, und das dafür eingesetzte Geld deutscher Sparer wäre für immer verloren. Autoren des von Heiner Flasbeck und Paul Steinhardt herausgegebenen Online-Magazins Makroskop halten das für „Unsinn“.
Gleichwohl sollte man das Risiko, das sich hieraus für Deutschland ergibt, nicht verkennen. Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, prophezeit, dass „die wirtschaftliche Entwicklung des Euro-Raums als Ganzes bald mehr der Italiens als Deutschlands gleicht“. Seiner Meinung nach deutet die Zunahme der Target2-Salden auf einen Übergang Europas zu einer „Transfer-Union“ hin. Dagegen aber werde sich in den Geberländern politischer Widerstand regen.
Die Bundesregierung thematisiert dieses Problem dagegen kaum. Und wenn doch, dann sucht sie die Lösung in einer prosperierenden Wirtschaft der Schuldnerländer. Andererseits aber blockiert sie diese durch ihre eigene merkantilistische Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Der eigentliche Schlüssel für eine Lösung des Problems liegt aber vor allem bei Deutschland: Würden wir in etwa so viele Güter und Leistungen importieren wie exportieren, dann gäbe es keine Schieflage in den Handelsbeziehungen, dann würden Leistungsbilanzdefizite und -überschüsse gleichermaßen sinken und schließlich ganz verschwinden. Damit wäre auch das leidige Problem der Taget2-Salden behoben und das an sich nützliche System würde wieder zu dem werden, was es anfangs war, nämlich ein technisches Verrechnungssystem zur Abwicklung von Zahlungen im Euro-Raum.
Erreichen lässt sich eine Lösung aber nur über eine EU-weit koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik und nicht über Panikmache, Drohungen oder einseitige Aktionen und Absprachen zu Lasten anderer Staaten.
Schlagwörter: Außenhandel, Euro, Export, Leistungsbilanz, Target2, Überschuss, Ulrich Busch