von Mathias Iven
Briefe, die innerhalb einer Familie geschrieben werden, haben nicht nur eine eigene Sprache, sie befassen sich oftmals auch mit Dingen, die nicht für Außenstehende gedacht sind …
Brigitte Reimann wurde am 21. Juli 1933 geboren. Anlässlich ihres 75. Geburtstages im Jahre 2008 hatte der Aufbau Verlag bereits ihre Korrespondenz mit den Eltern veröffentlicht. Nun, zehn Jahre später, folgt der Briefwechsel mit ihren drei Geschwistern. Neben Brigitte, der Ältesten, gab es den ein Jahr jüngeren Ludwig, von allen nur Lutz genannt. Ulrich wurde am 21. Juli 1941 geboren, exakt acht Jahre nach Brigitte, seiner, wie er sagte, „Zwillingsschwester mit acht Jahren Vorgabe“. Und schließlich war da noch die 1943 auf die Welt gekommene Dorothea.
Der jetzt veröffentlichte Briefwechsel setzt im Februar 1960 ein. Bis auf Dorothea haben alle Kinder das elterliche Haus in Burg verlassen. Brigitte Reimann lebt mit Siegfried Pitschmann, ihrem zweiten Ehemann, seit einem Monat in Hoyerswerda. Lutz verlässt im April 1960 mit Frau und Kind die DDR. In ihrem Tagebuch notiert Brigitte Reimann: „Spüre zum erstenmal schmerzlich – und nicht nur mit dem Verstand – die Tragödie unserer zwei Deutschland. Die zerrissenen Familien, das Gegeneinander von Bruder und Schwester – welch ein literarisches Thema!“ Anfangs zweifelt der Bruder an der Richtigkeit seiner Entscheidung. Er hat „in gewisser Weise Verräterkomplexe“. „Wenn das in zwei Jahren nicht besser geworden ist“, gesteht er Brigitte, „kommen wir zurück. Vielleicht haben wir bis dahin schon die Einheit. In der Not glaubt man auch wieder an Märchen.“ – Im April 1961 berichtet Brigitte Reimann ihren Eltern, dass sie an einer Erzählung arbeitet, ihr Titel lautet: „Die Geschwister“. Es ist eine Geschichte, „die sich eigentlich um Lutz und mich dreht – natürlich verfremdet und objektiviert“. Sie hat es „Lutz bis heute nicht verziehen, daß er weggegangen ist“, und sie wirft sich zugleich vor, „daß man damals etwas hätte unternehmen müssen“.
Bereits im Januar 1961 hatte der Vater damit begonnen, regelmäßig sogenannte „Familienrundschriebe“ zu versenden (insgesamt wird er es auf 214 bringen), in denen er einerseits Zusammenfassungen der von den Geschwistern an die Eltern gerichteten Briefe lieferte, andererseits sich aber auch mit Rat und Tat um ein gutes familiäres „Klima“ bemühte. So schriebt er am 16. Juli 1961 mit Blick auf das Verhältnis der beiden ältesten Geschwister: „Hütet Euch, unseren Familienzusammenhalt zu zerstören! Wir wollen doch jede eigene Meinung und nicht dem anderen etwas aufzwingen. Reden wir nicht von Freiheit, sondern üben wir sie! Dann bleibt das gegenseitige Verständnis.“ – Doch das Verständnis fehlt. Als Brigitte Reimann im September 1961 Sätze wie diesen liest: „Steig endlich einmal aus Deinem ,Elfenbeinturm‘ aus und sieh Dir Euer sozialistisches Leben an, aber ohne Deine rosarote Idealistenbrille!“ und mit dem Vorwurf konfrontiert wird: „Es ist wirklich eine Schande, wie Du Deine Fähigkeiten […] in den Dienst dieser Leute stellst.“ bricht sie den Kontakt zu Lutz ab. Erst anlässlich des 60. Geburtstages ihres Vaters, im Mai 1964, werden sie sich versöhnen und den Briefverkehr wieder aufnehmen. Fünf Jahre später können die Eltern schließlich lesen: „Es sieht auch so aus, als ob beide Seiten – was die politischen Standpunkte betrifft – ein wenig weiser geworden sind, nicht mehr so schroff und absolut … ach ja, wir kommen halt in die Jahre.“
Im November 1963 hat Brigitte Reimann mit der Arbeit an ihrem unvollendet gebliebenen Roman Franziska Linkerhand begonnen. Eine neue Herangehensweise soll, wie sie ihrer Schwester Dorothea mitteilt, zukünftig ihr Schreiben bestimmen: „ich habe einen schlichten Grundsatz, nach dem ich in Zukunft arbeiten will: Bücher zu schreiben von der Art, wie ich sie selbst gern lese. Scheiß auf Ruhm und Orden, ein bißchen Spaß muß es einem doch machen.“
Brigitte hätte Lust, „mal wieder die Tapeten zu wechseln“ – so informiert der Vater im Familienrundschrieb Nr. 149 vom 27. Februar 1966. Neubrandenburg, wohin sie ziehen möchte, „liegt günstig, zwischen Berlin und Rostock, man hat wieder mehr Tuchfühlung mit den geschwisterlichen Familien“. Doch der Abschied von Hoyerswerda wird nicht leicht. Es ist, schreibt sie an Lutz, „mehr als Gewöhnung: immerhin haben wir viel Zeit, Arbeit und Hoffnung in die Stadt investiert, Artikel geschrieben, die Architekten bis hinauf zur Bauakademie und zum Ministerium in Bewegung gebracht“. Und außerdem ist sie „neugierig, ob alle die Streitereien einen Nutzen haben, ob sich was ändert, und wann und wie“.
Mit Beginn des Jahres 1970 verschlechtert sich Reimanns Gesundheitszustand. Zunächst wird sie im Krankenhaus Mahlow behandelt, später in Berlin-Buch, mehrfach wird sie operiert. Wenn es die Schmerzen erlauben, schreibt sie weiter an ihrem Roman „Es ist wirklich bewundernswert und einmalig tapfer zu nennen“, heißt es im Juni 1972 in einem Brief von Willi Reimann an Brigittes Geschwister, „wie hier ein Menschenkind zu seiner ihm gegebenen Lebensaufgabe steht.“ – Brigitte Reimann stirbt am 20. Februar 1973 im Klinikum Berlin-Buch. Am 3. April wird sie in ihrer Heimatstadt Burg beerdigt, im Dezember 1992 wird ihre Urne in die Familiengrabstätte nach Oranienbaum überführt.
Wer noch kein Buch von Brigitte Reimann gelesen hat, sollte es spätestens jetzt tun.
Brigitte Reimann: Post vom schwarzen Schaf – Geschwisterbriefe (herausgegeben von Heide Hampel und Angela Drescher), Aufbau Verlag, Berlin 2018, 416 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 24,00 Euro.
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