14. Jahrgang | Nummer 8 | 18. April 2011

Orientalismus in Europa

von Ulrike Krenzlin

Duplizität der Ereignisse. Zu Jahresbeginn, als München die große Schau „Orientalismus in Europa“ eröffnete, geriet die arabische Welt in Bewegung, zuerst in Ägypten, anschließend in Libyen. Unversehens rückte mit den politischen Aufbrüchen die Kunst dieser Länder ins Zentrum des   Interesses. Die Münchner Ausstellung sucht zu diesem Thema neue Wege. In Frage gestellt wird in Kunst und Literatur eine in Europa jahrhundertelang gepflegte Vorstellung vom Islam, die so gut wie nichts zu tun hat mit seinem Wesen.
Darstellungen vom Leben der Sultane im Serail, vom Harem als dessen geheimnisvollem Innenbezirk mit den weißen Sklavinnen, den Odalisken und Eunuchen sind Fantasien von Künstlern entsprungen, die diese Orte nie betreten, sie aber von Ferne mit glühender Fantasie ausgemalt haben. Diese Bilder sitzen bis heute fest in unseren Köpfen. Eine Revision, auch in der Kunstgeschichte, ist erforderlich.
Den Belagerungen von Wien durch das Osmanische Weltreich in den Jahren 1529 und 1683, die Europa in Panik versetzt haben, folgen Phasen, in denen orientalische Moden, Kaffeekultur und Erotik  in alle Lebensbereiche eindrangen. Auslöser für die Orientforschung und nachfolgende Ägyptomanie war die „Expedition nach Ägypten“, zu der Napoleon am 1. Juli 1798 in das Land am Nil aufbrach. Ihm folgen 160 Fachleute, darunter Orientalisten, Geographen, Zoologen, Künstler unter Leitung des Kunstkenners Vivant Denon. Später entzifferte Champollion am Stein von Rosette die Hieroglyphen. In der Folge entstehen vielbändige Hauptwerke über ägyptische Kunst.
Zur Revision der europäischen Sicht auf den Orient fordert zeitgleich die Bonner Ausstellung  auf „Napoleon und Europa – Traum und Trauma“. Atemberaubend ist die Neubeurteilung Napoleon Bonapartes. Sie überzeugt darin, dass Napoleon im Widerspruch zwischen Faszination und Abscheu vor Augen geführt wird. Die französische Konzeption vertritt in Bonn die These, dass die „Ägypten-Expedition“ Ausgangspunkt der Neuordnung Europas war, in dem wir heute leben. Man darf hinzufügen, dazu gehörten auch die fünf Millionen Menschenopfer.
Mit dem Riesengemälde „Tod des Sardanapal“ von 1828 (Louvre) trieb Eugène Delacroix Auseinandersetzungen zum Thema Sultane und Serails auf die Spitze. Das spektakuläre Thema ist eine reine Erfindung. König Sardanapal hatte einen Überfall der Griechen auf Babylon abgewehrt. Jedoch folgte dem Sieg die Überschwemmung der Königsstadt durch den Euphrat und alle mussten sterben. Der König legte den Ablauf seiner Todesstunde fest als ein Massaker am Personenkreis des Inneren Palastbezirks, dem Harem. Hauptfrauen und Lieblingspferde werden von Eunuchen vor den Augen des Herrschers getötet. Ein furioses Bild, das im Pariser Salon zu einem Skandal führte. Denn die französische Öffentlichkeit erkannte in dem Großmassaker eine Diffamierung asiatischer Herrschertraditionen. Sie boykotierte es. Niemand kaufte mehr Bilder von Delacroix. Erst die „Freiheit auf den Barrikaden“ macht Delacroix wieder salonfähig. In der Kunstgeschichte spielte dieser feurige Punkt bis heute keine Rolle. Delacroix’ „Tod des Sardanapal“ wurde als eine originelle Geschichte wie aus Tausendundeiner Nacht verstanden.
Die kühnsten Fantasien ranken sich jedoch um den  Harem (arabisch haram). Es ist der von Eunuchen bewachte Innenbezirk eines Serails, wie er vom 16. bis 19. Jahrhundert in Blüte stand. Bestimmt ist der Harem ausschließlich für angehörige Frauen und unmündige Kinder eines Sultans oder muslimischer Würdenträger. Er diente dem Erhalt der dynastischen Erbfolge, war damit notwendiges Instrument Osmanischer Reichspolitik. Polygamie gehörte zur festen Tradition muslimischer Oberschichten.
Leben und sexuelle Vergnügen im Harem folgen in der Tat strengem Regelwerk und Hierarchien. An der Spitze eines Serails steht die Sultans-Mutter (Valide). Die Ausbildungs- und Vorbereitungszeit einer Konkubine dauerte 18 Monate, wenn sie vom Sultan als Sklavin persönlich bestimmt war. Schönheit galt nicht als ihr entscheidender Vorzug. Gefordert waren intellektuelle Fähigkeiten, Absolvierung eines Ausbildungsprogramms. Die sexuelle Beziehung zum Sultan währte nur bis zu ihrer Schwangerschaft. Zur Entbindung und Kindeserziehung kehrte die Konkubine in den Alt-Serail zurück. Danach widmete sie sich der Erziehung des Kindes. In der europäischen Kunst wird der Harem, den Unbefugte niemals betreten haben, als ein Ort fantastischer Männerträume geschildert, an dem der Sultan und sein Personal tagein tagaus der Liebe mit beliebig vielen Frauen frei und ungehemmt pflegen konnten. Diese Deutungen sind bis heute lebendig geblieben. Zwei Beispiele aus der Komischen Oper Berlin. In „Der Entführung aus dem Serail“ führte Mozart das Thema 1782  in die deutsche Oper ein. Der Katalane Calixto Bieito brachte in der Komischen Oper Berlin eine aufsehenerregende Inszenierung heraus. Der Harem wird als Bordell nach europäischem Muster vorgeführt. Und in „Armida“, der Oper von Christian Willibald Gluck, setzt Calixto Bieito mit seiner neuesten Inszenierung noch eins drauf. Behandelt wird die Geschichte der muslimischen Verführerin Armida aus dem 4. Gesang von Tassos „Befreitem Jerusalem“. Nach ihrem Sieg über die christlichen Kreuzritter entbrennt sie in Liebe zum Feind Rinaldo. Der Katalane Bieito macht aus seiner Inszenierung ein Spiel erotischer Obsessionen.
Kastration von Männern, entweder durch Früh- (vor der Pubertät) oder Spätkastration (an 20- bis 25-Jährigen), die zum Verlust der Mannbarkeit führte, gab es in allen Kulturen. Im Osmanischen Reich blieb Verlust der Zeugungskraft vor allem mit der Erwartung verbunden, in Eunuchen ein zuverlässiges Führungspersonal zu haben als Hüter der Frauen im Sultanspalast. Eunuchen leiteten außerdem deren Unterricht. Sie überwachten ihre Körperpflege. Sie waren kluge Geschäftsführer für den Serail. Allen Eunuchen eines Serails stand ein Oberster Eunuch mit außerordentlichen Vollmachten vor.
Angestachelt zu den schönsten Träumen haben jedoch Odalisken (osmanisch Gemach, Zimmer), die Bediensteten der Haremsfrauen, Maler und Dichter. Auch sie unterstehen der Sultansmutter, werden aber als Konkubinen auch dem Sultan zugeführt. Für Odalisken bevorzugte man Sklavinnen aus Georgien. Sofern die Wahl des Sultans auf eine ausgebildete Sklavin fiel, stand ihr eine große Karriere bevor. Jean-Auguste Ingres, Frankreichs größter romantischer Klassizist, gehört zu denjenigen, die weder Ägypten, noch andere Regionen des Osmanischen Reichs bereist haben. Doch angeregt durch die immense Ausbeute, die Napoleons Ägypten-Feldzug 1798 mit sich brachte, öffnet er eines seiner Lieblingsthemen, den weiblichen Akt, bereits 1808 mit „Der Großen Badenden von Valpincon“ (Louvre) der arabischen Erotik. Mit „Die große Odaliske“ von 1814 begründet er seinen Ruhm. Fortan variierte Ingres seine Badenden im Türkischen Bad (Hammam) über viele Jahrzehnte. Das „Türkische Bad“ von 1863 im Louvre ist in der Malerei des 19. Jahrhunderts in Bezug auf erotische Überreizung nicht mehr überboten worden.
Das 19. Jahrhundert entdeckte Vorlieben für weitere Themen aus der arabischen Welt. So führte die Mischung aus arabischer und spanischer Kultur in Südspanien zum Mudèjar-Stil. Kathedralen und Paläste, wie die Alhambra in Granada, zeugen von dieser großen Vergangenheit. Mauresken, zum Christentum konvertierte Araber, brachten die arabische Tanzkunst nach Europa. Arabische Wissenschaft und Kultur waren dem europäischen Kontinent um Jahrhunderte voraus. Lebendige Begegnung von Menschen aus beiden Kulturen fand jedoch nur in Spanien statt, das seit 711 – über siebenhundert Jahre hinweg – von Arabern erobert war und erst 1492 durch die Reconquista befreit worden ist. Arabisches Wissen, in den christlichen Klöstern bewahrt und vervielfältigt, gelangte von Spanien aus an die höfischen Eliten. Halluzinationen durch Opium und seine Folgen  werden in Wort und Bild gestaltet. Entdeckt wurde Ägypten als das Land der Pyramiden, der Wüste und ihrer  Gefahren. Es begannen die Morgenlandfahrten in den Orient. Dieser Aufbruch in die arabische Kunst, Literatur und Musik, gehört heute zum Weltkulturerbe.

Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky –Ausstellung bis 1. Mai 2011, München, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, Katalog 29,00 Euro
Napoleon und Europa – Traum und Trauma
– Ausstellung bis 25. April 2011, Bundeskunsthalle Bonn, Katalog 39,95 Euro