21. Jahrgang | Nummer 12 | 4. Juni 2018

Der Fluch der Kaffeebohne

von Bettina Müller

Ein größerer Ort in Hessen, der Name tut nichts zur Sache und muss streng geheim bleiben. Nur so viel sei verraten: Er fängt mit „Bad“ an und hört mit „Burg“ auf. Kurstadtidylle. Ein herrlicher Kurpark und eine nette kleine Altstadt. Der örtliche Touristenverband verspricht auf Werbeplakaten „Champagnerluft“. Schwer zu fassen. Oben auf der Saalburg kann man auf den Spuren der Römer wandeln, die sich dort vor langer Zeit mal herumgetrieben haben und sich mit lautem Gebrüll auf alles stürzten, was germanisch aussah. Vom Bahnhof aus muss man den Hessenring überqueren, wenn man in die Innenstadt will. Unangenehme Umgehungsstraße. Viele Autos, viel Benzin, viele Tankstellen. Eine davon fällt mir auf, denn sie hat auch ein großes Bistro und das heißt On the run und wirbt mit dem Slogan Kaffeegenuß für Eilige.
Aha, denke ich, wie ist das denn möglich? Das Tankstellenbistro ist „auf der Flucht“ (on the run) und hat einen Kaffeebecher in der Hand. Ich sehe seltsame Szenarien vor meinem inneren Auge: Legionen von eiligen Menschen mit Kaffeebechern to go in der Hand, weil sie on the run sind. Für eine lange und feierliche Kaffeezeremonie haben sie keine Zeit. Die ist auch streng geheim und ich darf sie eigentlich nicht verraten, aber… Also, du vergräbst deine in Südamerika geklauten Kaffeebohnen eigenhändig auf deiner riesigen deutschen Kaffeeplantage in deinem kleinen Schrebergarten und kannst schon bald reich ernten. Die Kaffeebohnen musst du am Monatsende langsam und liebevoll zerdrücken, um das kostbare Kaffeepulver zu gewinnen. Für den vollen Geschmack dürfen die Kaffeebohnen aber nur bei Vollmond und bei völliger Windstille um 23.23 Uhr vom Baum geschüttelt werden und du darfst dafür nur in schwarz gekleidet sein und keine Schuhe tragen. In der Zwischenzeit hast du auch geschwind ökologisch abbaubare Kaffeefilter gebastelt und kannst dich nun der stundenlangen Aufbrühzeremonie widmen, um dich dann gemütlich an den liebevoll geschmückten Kaffeetisch mit dem geerbten Meissner Porzellan von Oma Frieda und den leckeren Sahneschnittchen von Bäcker Krause zu setzen.
Das wäre der Idealfall, der leider nur noch selten eintritt. Und außerdem hat Bäcker Krause, der alte Halsabschneider, schon wieder den Preis von den Latte Macchiato-Sahneschnittchen erhöht. Aber der Kaffee muss doch trotzdem getrunken werden, doch Zeit ist knapper als knapp, also her mit den coolen Kaffeebechern, vite vite! Ich entschuldige mich an dieser Stelle in aller Form für den schnöden deutschen Begriff „Kaffeebecher“. Ich weiß aber nicht, was „Kaffeebecher für Leute, denen man wirklich alles verkaufen kann, sogar Kaffee to go“ auf Englisch heißt und habe dafür jetzt auch keine Zeit, so einen Unsinn zu übersetzen, denn ich muss Kaffee kochen.
Meine hessische Vision dauert noch beunruhigend lange an, da fahre ich nie wieder hin. Ich sehe Menschen auf der Flucht mit Kaffeebechern in der Hand, die sich vor lauter Eile den Mund verbrühen. Es muss eigens eine eigene Kaffeebecherpolizei gegründet werden, um den Kaffeebecherverkehr zu regeln. Morgens ist es am schlimmsten, wenn alle Kaffeebecher zur Arbeit gehen. Natürlich gibt es Streit unter den Kaffeebecherpolizei-Angestellten und die gründen dann eine Kaffeebecherpolizeigewerkschaft. Schon bald murren die ersten, weil sie sich unterbezahlt fühlen und eine Streikwelle erfasst Deutschland. Die Teilnehmer dieser Streikwelle verbünden sich dann mit den Teilnehmern der Klagewelle, die die rücksichtslosen Kaffeeschlürfer nach Kollisionen wegen vollgekleckerter Kleidung verklagt haben. Die deutschen Gerichte ersticken unter den kaffeebraunen Papierbergen. Die Richter gehen erst mal einen Kaffee trinken. Die Straßenreiniger verklagen wiederum die Teilnehmer beider Klägerkreise, weil sie die Straßen nicht mehr von der braunen Sauce frei schrubben können. So geht es Stunde um Stunde, Tag für Tag, jeder verklagt jeden. Bis Deutschland nicht mehr weiter weiß und sich selbst verklagt.
Nach diesem verstörenden Horrorszenario bin ich etwas apathisch und muss mir zur Stärkung mit zitternder Hand einen Kaffee gönnen. Keinen Latte Tralala und auch keinen Triple Coffein Choc Choc Wow!, nein, einen simplen Kaffee. Das Leben kann so einfach sein. „Halt! Sie da! Sofort aufhören! Nehmen Sie sofort den Porzellankaffeebecher aus der Hand, der ist nicht aus Plassstikkkkk!!“, schallt es mir ohrenbetäubend von draußen entgegen und die Stimme des Brüllaffen überschlägt sich fast. Die schon wieder, denke ich entnervt, die vom Kaffeebecher-Sicherheitsdienst …. und lasse ganz langsam aber auch ganz sicher die Jalousie herunter… Herr Ober! Bitte ein Bier!