21. Jahrgang | Nummer 12 | 4. Juni 2018

Wiedergelesen – „Lenz, die Geniezeit ist vorbei“

von Ulrich Kaufmann

Im Jahre 1994 erschien als Nummert 8 der Winsener Hefte – Literarische Mosaiksteinchen eine knapp 20-seitige Publikation zu Goethe und Lenz. Geschrieben hat sie der 1942 geborene Leipziger Schriftsteller Volker Ebersbach.
Thüringen hat Ebersbach entscheidend geprägt. In Jena studierte er in den sechziger Jahren Germanistik und Altertumswissenschaft. Mit einer Arbeit über den römischen Satiriker Petronius Arbiter wurde er 1967 an der Friedrich-Schiller-Universität promoviert. Während seiner Studienzeit lebte Ebersbach in Cospeda. In seinem Roman „Kinder des Narziß“ (2000) und einem Sachbuch hat er darüber geschrieben. Sein 1994 gewählter Stoff ist mit Thüringen verbunden: Auch Volker Ebersbach interessiert die letztlich ungeklärte Frage, wie es zu dem Zerwürfnis zwischen Goethe und Lenz kam und warum letzterer am 1.Dezember 1776 Weimar für immer verlassen musste. Erst die Forschungslücke setzt die Phantasie des Schriftstellers frei.
Strukturiert ist der Text, den der Autor eine „Erzählung“ nennt, wie ein klassisches Drama – in fünf Teilen. Bei Ebersbach sind es „Etüden“, Übungsstücke, Versuche schrittweise hinter das Geheimnis dieser vieldiskutierten „Eseley“ zu kommen. Es ist ein halb erzählender, halb dramatischer Text. In essayistisch-assoziierender Prosa setzt das Werk ein und es mündet in Dialogen zwischen Lenz und Goethe. Der wache Leser dieses dichten und anspruchsvollen Textes muss selbst erspüren, welche Redeanteile von Goethe und welche von dem nicht nach Weimar eingeladenen Jakob Lenz stammen. Man sollte fast gelernter Musikwissenschaftler sein, um die verschiedenen Tempi der fünf Etüden zu erkennen, zumal sie mitunter in der Verkleinerungsform daherkommen: Allegretto, Andantino, Adagietto, Moderato und Presto / Coda. Den Text hat die Lenz-Forschung – eigene Bemühungen eingeschlossen – bislang regelrecht stiefmütterlich behandelt.
Die fünf Etüden sind chronologisch angeordnet. Ebersbach setzt mit Lenzens Reise und Ankunft in Weimar ein (am 1., nicht am 2. April 1776). Dann wird im Andantino Goethes erster Frühling in Thüringen thematisiert, den der „Liebling der Götter“ zum Teil bereits mit Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) verbringt. Erste Differenzen zwischen den Poeten, die in Straßburg Freunde wurden, treten hervor. Am Ende steht ein Zitat, das den Thesen des Psychoanalytikers K.R. Eissler nahe kommt. Goethe spürt: „Lenz ist ein Mensch, der sein Verhängnis sucht. Seine stieren Augen, sein entzündetes Blut. Oh! Es ist mein Wahnsinn! Mein Wahnsinn bricht an ihm aus!“ (Die Mehrheit der Forscher geht davon aus, dass man erst seit 1777 von Lenzens Wahnsinn sprechen kann.)
Lenz kommt nach Weimar nicht als „Schmarotzer“, sondern mit dem Plan, sich etwa als Vorleser, Englischlehrer oder Militärreformer nützlich zu machen. „Warum“, fragt Ebersbach, „geht er nicht nach Dessau, ans Philanthropin, wohin ihn Basedow gerufen hat? Vom Hofmeister zum Schulmeister, das ist freilich keine Laufbahn.“ Ebersbachs These, wonach Lenzens Wirken in Dessau ein beruflicher Abstieg gewesen wäre, ist interessant. Die Absage des Dichters hat indessen mit Basedows umstrittenem Bildungskonzept zu tun, wie ich anderswo (Mitteldeutsches Jahrbuch 2019) zeigen konnte.
In der Mitte des Textes begegnet uns Lenz in seiner Berkaer „Einsiedelei“, Ende Juni, „zur Atemwende des Jahres“. Goethe, von Ämtern überhäuft, überlässt Lenzen das Dichten. Der „Waldbruder“ entsteht, ein kleiner Briefroman, der sich am „Werther“ orientiert, an seinem Reformprojekt „Über das Soldatenwesen“ arbeitet er, gegen den Willen Goethes, weiter. Doch der Einsiedler empfindet im Leben wie im Schreiben nunmehr ein „einziges Mißlingen“. Jahre vorher hatte Lenz in Straßburg mit dem „Hofmeister“ und später mit den „Soldaten“ seine größten Erfolge als Dramatiker.
Bei einem Besuch in Berka scheint Goethe den Freund aus Livland, den er nicht selten „Lenzchen“ zu nennen pflegt, zunächst zu beneiden. „Du Glücklicher! Du lebst wie ein Poet. Hälst dich im Hintergrund. Da bleibt man frei. Wirst nicht von großen und wichtigen Geschäften ausgezehrt. Brauchst dich nicht überall hinzupassen, mußt nicht aus allem Vorteil ziehen.“ Lenz lebe, meint Goethe, nicht in der „wahren Welt“. Lächelnd erwidert Lenz, dass er sich diese nicht leisten könne. Am Ende spricht Goethe nüchterner, realistischer: „Ruhmlosigkeit ist für den Dichter tödlich.“ Der Feuchtwanger-Preisträger des Jahres 1985 lässt den Dialog mit einem überlieferten Goethe-Wort ausklingen. „Lenz, du dauerst mich.“
Der „mäßig schnelle“ 4.Teil („Moderato“) ist den 50 Tagen gewidmet, die Lenz im Hebst 1776 bei der Hofdame Charlotte von Stein auf dem Kochberger Wasserschloss verbringen durfte. Im abschließenden hektischen Presto, in Ebersbachs fünfter Etüde, geht es für Lenz und Goethe um die verheerenden Folgen dieses Besuchs. Es kommt, bei Ebersbach zeitlich nicht fixiert, zum Bruch, zum tragischen Ende einer Freundschaft zwischen einstmals gleichrangigen Poeten. Bevor (in der Version Ebersbachs) die Katstrophe zischen den Poeten ausbricht, greift Lenz Goethe scharf als Höfling an. „Bruder, du bist in einem Jahr um ein Jahrzehnt gealtert.“ Worte wie „einschleimen“, „Lakai“ und „Nachsicht mit Scheißkerlen“ fallen. Goethe geht auf diese Vorwürfe nicht ein. Erst fragend, dann bestimmter will er Privates, auch zur Frau von Stein, wissen. Fast beiläufig heißt es: „Komm, Lenz, erzähl von Kochberg.“ Lenz, von allen guten Geistern verlassen, erwidert: „Ich habe sie gehabt“ und fährt fort: „Du etwa nicht?“ Goethe hält die Provokation für einen schlechten Scherz. Jakob Lenz bereut wenig später seine falsche Aussage. Fast nebenbei erwähnt Ebersbach, dass es Ende November zu einer weiteren „Eseley“ am Hofe kommt. „Die Larven dieser Ballnacht gehen ihm (gemeint ist Goethe – U.K.) nicht aus dem Sinn.“ Lenz ist nicht bereit, sich bei Hofe für diese Eseley zu entschuldigen. „Ich habe nur dich beleidigt und …SIE, die Göttin sollten wir doch verschonen“, meint Lenz.
Das letzte Wort hat selbstredend Goethe. „Dann, Lenz, musst du fort… Lenz es reicht!“
Der fiktionale Text ist zu großen Teilen eine geschickte Textcollage aus authentischen Briefen und Dramen des Sturm und Drang von Goethe, Lenz und Klinger. Auch aus „Dido“, einem Trauerspiel der Charlotte von Stein, wird zitiert. Dies vermerkt Volker Ebersbach am Ende seiner Etüden selbst.
Was er nicht expliziert hervorhebt, ahnt der sensible Leser: Bis heute gibt es arrivierte Dichter und solche, die trotz ihres Talents scheitern, ewig im Schatten stehen und von ihrer Arbeit nicht menschenwürdig leben können…

Volker Ebersbach: Fünf Etüden über eine Eseley – Goethe und Lenz, Winsen/Luhe und Weimar 1994, 19 Seiten; für seinen Band „Und als ein Fremdling geblieben – Erzählungen. Nachrichten“ (Halle 2012) hat Ebersbach die „Fünf Etüden“ von 1994 in einer überarbeiteten Version vorgelegt.