21. Jahrgang | Nummer 11 | 21. Mai 2018

Chinesischer Drache und indischer Tiger wagen ein Tänzchen

von Edgar Benkwitz

Wird der außenpolitische Kurs von US-Präsident Trump dazu führen, dass sich die beiden asiatischen Giganten China und Indien annähern, stärker abgestimmt in den internationalen Beziehungen auftreten sowie bestehende bilaterale Probleme einer Lösung zuführen? Es hat zumindest den Anschein dafür und einige Beobachter sind der Ansicht, dass mit dem überraschenden zweitägigen Arbeitstreffen von Präsident Xi Jinping und Premierminister Narendra Modi am 28. und 29.April in Wuhan dieser Prozess bereits in Gang gesetzt wurde.
In der Tat ist diese Zusammenkunft ein Novum in den wechselhaften Beziehungen beider Großmächte. Obwohl sich ihre Repräsentanten jährlich mehrmals bei offiziellen Besuchen und  multilateralen Treffen begegnen, wurde kurzfristig diese Zusammenkunft anberaumt, sechs Sitzungen fanden statt. Die Initiative dafür ging von China aus und auch zukünftig sollen solche Spitzendialoge stattfinden. Ein Abschlussdokument gab es nicht. An konkreten Maßnahmen wurde immerhin bekannt, dass beide Regierungen ihren Militärs eine „strategische Anleitung“ verordnen wollen, um die Kommunikation zwischen ihnen zu verbessern und Vertrauen aufzubauen. Weiterhin werden beide in Afghanistan eine wirtschaftliche Zusammenarbeit durch die Gründung eines gemeinsamen Unternehmens aufnehmen.
Diese spärlichen Fakten bedürfen natürlich einer Einordnung in die Gesamtbeziehungen beider Länder. Die können zwar weitgehend als normal bezeichnet werden, sind jedoch mit Problemen belastet, deren Lösung sich durch das Großmachtstreben beider Staaten immer schwieriger gestaltet. China spielt seine Stärken geschickt gegen Indien aus. Dieses als der Schwächere von beiden hat dem wirtschaftlichen und außenpolitischen Vorgehen seines Nachbarn oft wenig entgegen zu setzen. Allerdings hat Indien mit der jüngst erfolgten Hinwendung zu den USA auf geopolitischem und verteidigungspolitischem Gebiet seinen Konkurrenten China an einer empfindlichen Flanke getroffen.
Die eigensüchtige Politik von US-Präsident Trump verändert die internationalen Bedingungen auch in Asien. Trotz ihrer Rivalitäten müssen nun auch China und Indien erkennen, dass sie im gleichen Boot sitzen. So ist es kein Zufall, dass sich plötzlich China um Indien bemüht. Im gegenwärtigen Weltgeschehen braucht China Indien – das ist die Meinung vieler Beobachter. Doch Indien braucht auch China, denn es ist genauso an der Erhaltung der regionalen Sicherheit und am Gedeihen von Handel und Wirtschaft interessiert. Nichts wäre für das aufstrebende Schwellenland schädlicher, als eine massive Störung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Ein Drittel seiner Ölimporte kommt aus dem Iran, indische Arbeitskräfte in Nahost überweisen jährlich über 60 Milliarden Dollar in die Heimat. Auch das fortgeschrittene Projekt des Baus eines Hafens im iranischen Chabahar, der unter Umgehung Pakistans Ausgangspunkt nach Afghanistan, Mittelasien und Russland werden soll, ist plötzlich gefährdet. Indien wird wie auch andere Staaten vor Probleme gestellt, die ein Überdenken außenpolitischer Strategien erfordert. Bisher belastete Beziehungen und Rivalitäten mit Staaten, die durch Trump ebenfalls geschädigt werden, müssen als erstes überdacht werden.
Genau diese Fragen scheinen bei den Gesprächen zwischen Xi und Modi im Zentrum gestanden zu haben. Zumindest deutet eine Reihe von Hinweisen darauf hin, dass über eine „Risiko mindernde Strategie“, über Zurückhaltung und Verantwortung und die Verminderung des Vertrauensdefizits gesprochen wurde. Nüchtern bewertet könnte dies die Grundlage für festgeschriebene, bilaterale Verhaltensregeln werden. Denn die tief verwurzelten Probleme zwischen beiden Staaten sind nicht sofort lösbar. Aber sie sollen durch beide Seiten beherrschbar sein, damit die Stabilität in der Region nicht gefährdet wird.
Einer der Gestalter der modernen indischen Außenpolitik, S. Jaishankar, berührte in einer Lektion in Singapur diese Fragen. Er bezog sich auf die europäische Geschichte, die die Gefahren aufstrebender, auf sich selbst bezogener Mächte, aufgezeigt habe. Daraus sollten Lehren für Asien gezogen werden, denn wachsende Fähigkeiten und Einfluss erfordern ein größeres Engagement mit der Welt. „Es scheint, dass diese Erkenntnis sowohl in Peking als auch in Neu Delhi in großem Maß vorhanden ist“, so die bemerkenswerte Feststellung Jaishankars.
Bei der Analyse der umstrittenen Fragen zwischen beiden Staaten stößt man unvermeidlich auf die gemeinsam vom britischen Kolonialismus übernommenen Grenz- und Territorialprobleme. Indien findet sich nicht damit ab, dass diese am Leben erhalten und nach Bedarf als Druckmittel eingesetzt werden. Obwohl in der Vergangenheit selbst nicht frei von einer solchen Herangehensweise, ist Indien seit längerem an einer einvernehmlichen Lösung interessiert. Des weiteren registriert Indien mit Sorge, dass die offen antiindisch eingestellte pakistanische Militärführung sich immer stärker auf China stützt. Daher ist der Teil der Neuen Seidenstraße, der aus Westchina durch den Hindukusch zum Arabischen Meer führt, zu einem Problem für Indien geworden. Es befürchtet, dass durch dieses gigantische Projekt eine dauerhafte Verbindung zwischen den pakistanischen Machthabern und der chinesischen Führung zum Nachteil Indiens entsteht. Obwohl Indien generell an länderübergreifenden Handels- und Wirtschaftszonen interessiert ist und eigene Vorhaben verfolgt, sieht es hier seine Interessen massiv gefährdet, zumal das chinesisch-pakistanische Projekt durch von Indien beanspruchtes Gebiet, das de-facto zu Pakistan gehört, im geteilten Kaschmir gebaut wurde.
China hat naturgemäß eine andere Sichtweise. Es beklagt, dass sein Prestigeobjekt in seiner Gesamtheit von Indien brüskiert wird und wirbt um dessen Teilnahme. Letztendlich würde eine Einbindung Indiens, mit den uralten Handelsrouten von Nord nach Süd unter Einschluss Nepals und Bangladeschs sowie des riesigen indischen Marktes mit seiner interessanten Infrastruktur das Projekt erst komplett und voll wirksam machen. Auch Indien würde davon profitieren.
Daneben verfolgt China misstrauisch den Ausbau der strategischen und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit, den die Regierung Modi mit westlichen Partnern, besonders den USA, vorantreibt. Chinas Lebensader im Seetransport führt durch den Indischen Ozean, am Ausgang der Malakka-Straße berührt sie die indische Inselgruppe der Andamanen und Nikobaren, geostrategisch von hohem Wert. Mit Argwohn wurde deshalb die Teilnahme Indiens an der Seite der militärisch verbündeten USA, Australiens und Japans am sogenannten Quadrilateralen Sicherheitsdialog(Quad) verfolgt, bei dem es um Fragen des Pazifiks und Indischen Ozeans geht.
Wird es möglich sein, einen modus vivendi zu finden, der beiden Staaten erlaubt, trotz der genannten Differenzen bei der Lösung größerer Probleme konstruktiv zusammen zu arbeiten? In der Geschichte der Beziehungen beider Länder gab es wiederholt Versuche, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit herzustellen. Viel wird jetzt von der weiteren Entwicklung der internationalen Lage abhängen. Noch wichtiger ist aber das Zurückstellen nationalistischer Denkweisen. Von beiden Seiten gab es vorerst Gesten, die den neuen Umgang miteinander deutlich machen sollen. So öffnete China die willkürlich geschlossene Pilgerroute zum heiligen Berg Kailasch in Tibet. Auch kam es Indiens Wunsch nach Abbau des großen Handelsdefizits entgegen, indem es pharmazeutische Produkte von hohen Einfuhrzöllen befreite. Die indische Regierung wiederum verbot ihren Dienststellen, sich an Gedenkveranstaltungen tibetanischer Flüchtlinge zum 60. Jahrestag der Flucht des Dalai Lama zu beteiligen. Als Veranstalter der jährlich stattfindenden Seekriegsmanöver im Indischen Ozean, den Malabar-Manövern verzichtete es auf die Einladung Australiens, womit es die sichtbare Verbindung der neuen Quad-Gruppe mit diesen Manövern vorerst nicht geben wird.
Der indische Premierminister trifft am 21. Mai in Sotschi zu einem kurzfristig anberaumten Arbeitsbesuch mit Präsident Putin zusammen. Die drei Kern-Mächte der BRICS- und Schanghai-Gruppierung – China, Russland und Indien – scheinen nicht bereit, Trumps neue Weltordnung zu akzeptieren und stimmen ihr weiteres Vorgehen ab.