21. Jahrgang | Nummer 11 | 21. Mai 2018

Mohammed, Frauen und Aufklärung

von Reinhard Wengierek

Der Papa kam einst, frisch verheiratet, aus Pakistan nach US-Amerika. Hier wurden seine beiden Töchter geboren, hier fühlt er sich heimisch; freilich ohne seinen Glauben, ohne grundsätzliche Wertvorstellungen seiner Vorfahren – der muslimischen Welt überhaupt ‑ aufzugeben. Und: Hier, im tiefen Westen, machte Herr Afzal sein großes Geschäft: Ein Drittel aller Taxis in Atlanta laufen in seiner Firma. Wow, ein reicher Mann. Jetzt ist er Witwer, die beiden Töchter sind erwachsen und sollen endlich Familien gründen – natürlich mit den „richtigen“ Männern.
Tochter Mahwish, 25, ist ein durchtriebenes Herzchen, „leicht und unbeschwert“. Sie lebt und liebt freizügig, also kaum Koran-konform (Analverkehr, wegen der Jungfräulichkeit), was ihr insgeheim Angst vor Strafe macht (die Hölle droht). Weshalb sie wiederum nach außen hin die Brav-Bigotte spielt. Was ihre fürsorgliche, aber geradeaus denkende und redende ältere Schwester Zarina auf die Palme bringt.
Zarina, 32, wirkt zwar „leicht verhärmt“, ist aber ein starker, widerständiger Geist, hochbegabt und studiert (Schwerpunkt „Gender“ – „was soll das?“, wird da irritiert gefragt). Und: Seit zwei Jahren schreibt sie an einem Buch über den Propheten; fragt undogmatisch nach dem „Wer“, der Mohammed gewesen sein könnte, und belichtet dabei kritisch das „Was“, zu dem ihn Überlieferung und Legenden im Lauf der Jahrhunderte erhöht haben.
Zarinas quellenkritische Forschungen zur Figur des Mohammed liefern den Titel für die tragisch grundierte Familiengeschichte „The Who and the What“ des muslimischen, weltläufigen US-Autors Ayad Akhtar aus New York, aufgewachsen als Sohn pakistanischer Einwanderer im US-Staat Wisconsin. Der Pulitzer-Preisträger schrieb sie in Fortsetzung seines Stücks „Geächtet“. Da kommt es während einer luxuriösen Party in elitären Anwaltskreisen zur heftigen Konfrontation zwischen Islam, Christen- und Judentum. Da eskalieren im privaten Raum die Ängste der nicht-islamischen amerikanischen Mehrheitsgesellschaft angesichts des weltweit allgegenwärtigen Terrors im Namen Allahs. „Geächtet“ gewann 2013 den Pulitzer-Preis und wurde 2016 in der Kritiker-Umfrage des Branchenblatts „Theater heute“ zum besten nicht-deutschsprachigen Theaterstück (auch mit meiner Stimme) erwählt.
Jetzt zeigt die direkt neben dem Theater des Westens beheimatete Berliner Off-Bühne „Die Vaganten“ unter Regie von Bettina Rehm in ihrem innovativen Theaterkeller „The Who and the What“, 2014 in New York uraufgeführt, auf Deutsch erstmals 2017 im Hamburger Schauspielhaus in Star-Besetzung gezeigt. Man ist in der Kantstraße sowohl auf der Höhe der Zeit wie auch an der Spitze der Präsentation internationaler Dramatik. Chapeau!
Akhtars Vater-Töchter-Drama spitzt auf unterhaltsame, auch herzergreifende Art existenzielle Konflikte scharf zu. Die Story geht so: Der sympathische Herr Afzal (Jürgen Haug) gibt sich als Vater, aufrichtig bemüht, liberal; seine beiden Mädels müssen kein Kopftuch tragen. Doch bei der Wahl des Heiratskandidaten für die ältere Tochter kehrt er den alten Macho raus. Zarina (Natalie Mukherjee), darf nicht ihre geliebte erste Wahl, einen Ungläubigen, heiraten; dafür die freundschaftlich zweite, vom Papa arrangierte. Ihr Ehemann Eli ist ein netter weißer junger Mann, der undogmatisch denkt, zum Islam konvertierte und als Imam geweiht wurde (Björm Bonn). Für Papa Afzal ein passabler Schwiegersohn, auch wenn er ihm zuweilen viel zu weich ist („der Mann muss seine Frau brechen, muss ihr zeigen, wer Bestimmer ist im Haus“).
Doch nachdem Zarina mit Spitzen-IQ und High-School-Ruhm ihr Koran-kritisches Buch veröffentlichte, das die Rolle der Kopftuch-Frau aufklärerisch umstürzt nach liberal-westlichem Muster, da drehen Afzal, das frech-bigotte Töchterchen, Zarinas jüngere Schwester Mahwish (Sabrina Amali), und selbst Zarinas Imam-Ehemann Eli durch. Dabei schwärmte gerade der doch noch zuvor von der „entspannten Gleichheit in der herrlichen muslimischen Gemeinschaft“. Realistin Zarina konterte jenen Idealismus kühl : „Du musstest ja nicht als Frau aufwachsen in dieser ach so coolen Gemeinschaft.“
Zarina schreibt, so die Meinung in der Familie wie überhaupt in ihrer muslimischen Community von Atlanta, absolut Ungeheuerliches in ihrem „Gender“-Buch. Eine Gotteslästerung. Beispielsweise lässt sie Gott mit der Stimme einer Frau zum Propheten sprechen. ‑ „Gott hat keine Brüste“ brüllt der Vater, als er das liest. Die Tochter murmelt beiseite, woher ihr alter Herr das wohl wisse, das mit den fehlenden Brüsten…
Für den erschütterten, stramm gläubigen Herrn Vater ist alles Denken und Schreiben seiner Tochter schwere Blasphemie (kostet beispielsweise in Pakistan den Kopf). Die rechte Religion, also allein der Islam, den hinterfrage man nicht, tobt Papa. Im Koran stünden keine literarischen Texte, keine subjektiv überformten Überlieferungen, sondern nur erste und letzte Wahrheiten. Basta! In der Macht des Glaubens gar ein Weltübel zu sehen, das sei geradezu abartig. So die selbstgerechte Denkungsart der Muslime, diagnostiziert der Autor Ayad Akhtar. Und bekannte im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wie er weltweit damit aneckt. „Es gibt nicht sehr viele Theatergänger unter den Muslimen. Dabei richten sich meine Stücke gerade an ein muslimisches Publikum. Es ist wie in diesen wunderbaren Schiller-Stücken, in denen die Hauptfigur das Publikum attackiert. Daher können meine Stücke wohl auch nicht in einem islamischen Land aufgeführt werden, weil wahrscheinlich das Theater angezündet würde. Aber auch im Westen gibt es nicht nur eine muslimische Stimme. Eine vorherrschende Ansicht ist: ‚Wir verstehen, was du tust. Aber warum tust du es vor weißem Publikum? Tu das nicht, es lässt uns schlecht aussehen.‘ Es sind Leute, die es nicht gewohnt sind, kritisch gesehen zu werden.“
Doch die Sorge des Vaters in „The Who and the What“ gilt nicht allein dem vermeintlich frechen Lästern (eigentlich: einer Sinnsuche fürs Leben); gilt nicht dem verschütteten Seelenheil der abtrünnigen Tochter. Afzahl wie auch Mahwish und Eli treibt vornehmlich die heillose Angst vor Verfolgung der Familie durch die nach Elis Meinung doch so cool entspannte muslimische Gemeinde Atlantas um. Schließlich bröckeln schon in Afzals Taxi-Imperium die Aufträge. Man befürchtet tödliche Aktionen.
„The Who and the What“ schildert – geschickt verpackt in eine anrührende Familiengeschichte ‑ den Diskurs über Toleranz und Freiheit und die fatale Rolle, die eine orthodox-religiöse Praxis dabei spielt. Akhtars eher journalistisch geformtes, zuweilen sogar komisches Zwei-Stunden-Spiel beschreibt pointiert den mutigen Akt einer muslimisch-weiblichen Emanzipation und ihre Bekämpfung. Das macht es so spannend und wichtig. Gerade auch, weil das Zerstörerische nicht verschwiegen wird, das einer offenen Gesellschaft droht von militant behaupteten Dogmen welcher Art auch immer.