21. Jahrgang | Nummer 8 | 9. April 2018

Von Willkommen und Abschied

von Wolfgang Brauer

An Sessenheim rauschen wohl die meisten, nachdem sie bei Iffezheim den Rhein überquert haben, auf der Autobahn 35 in Richtung Strasbourg oder Paris achtlos vorbei. Die Trasse selbst zerschneidet eine der schönsten Kulturlandschaften des Kontinents. Wer kein Interesse an Kiesgruben, factory outlets und anderen Merkwürdigkeiten unserer Zivilisation verspürt, wird hier nicht anhalten wollen. Das ist ein Fehler. Hier fand die Initialzündung zu einer sehr kurzlebigen, aber äußerst nachhaltigen Strömung der deutschen Literaturgeschichte, dem Sturm und Drang, statt. Genau genommen passierte in Sessenheim aber nur eine Liebesgeschichte wie viele andere auch. Kurz, heftig und mit traurigem Ausgang.
Protagonisten waren ein 21-jähriger Straßburger Jurastudent und eine 19-jährige Pfarrerstochter aus dem Ort. Den Studiosus ödete die trockene Juristerei an – „ Das Juristische trieb ich mit so viel Fleiß, als nötig war“, schrieb er Jahre später. Mehr Interesse zeigte er an medizinischen Dingen. Einen Wechsel ließ aber der Vater nicht zu. Er sollte recht behalten. Miserable Mediziner gab es in jener Zeit, man schrieb das Jahr 1770, übergenug. Der junge Mann sollte wenig später unter dem Namen Johann Wolfgang Goethe zu einiger Bekanntheit gelangen. Mit dem Dichten wollte es in den Straßburger Monaten aber auch nicht so recht gelingen. Er steckte wohl wieder einmal in einer Lebenskrise.
Aus der sollte ihn sein Studienfreund, man besuchte denselben Mittagstisch, Friedrich Leopold Weyland herausreißen. Weyland stammte aus Buchsweiler im Elsaß und suchte häufiger Freunde und Verwandte heim. Das sparte Lebenshaltungskosten. „Dieser hatte mir öfters von einem Landgeistlichen gesprochen, der nahe bei Drusenheim, sechs Stunden von Straßburg, im Besitz einer guten Pfarre mit einer verständigen Frau und ein paar liebenswürdigen Töchtern lebe. Die Gastfreiheit und Anmut dieses Hauses ward immer dabei höchlich gerühmt. So viel bedurfte es kaum, um einen jungen Ritter anzureizen“, schrieb Goethe später im zweiten Teil von „Dichtung und Wahrheit“.
Anfang Oktober 1770 mieteten die beiden also Pferde und ritten nach Sessenheim. Das sind circa 40 Kilometer. Den Weg kann man nachfahren, die heutige D 468 folgt bis Drusenheim der damaligen Poststraße. Jedenfalls sprach man im Pfarrhaus vor. Johann Jakob Brion, Friederikes Vater, hatte die Pfarre seit 1760 inne. An der Stelle des alten, schon bei Goethes erstem Besuch recht maroden Pfarrhauses steht heute ein stabiler Bau aus dem Jahre 1835. Vom Aussehen des Vorgängers können aufmerksame Spaziergänger durchaus eine Vorstellung entwickeln – in unmittelbarer Nähe existieren noch zwei Fachwerkhäuser aus der Friederiken-Zeit. Vom Pfarrhof steht lediglich die Scheune (andachtsvoll „Goethescheune“ genannt …) noch. Sie wurde 1958 restauriert und hat literaturhistorische Bedeutung, weil vor ihr eine Bank stand, auf der die Liebenden gelegentlich saßen. Der bauliche Zustand des Pfarrhauses bot dem Studiosus übrigens den Anlass, sich den Pfarrer gewogen zu stimmen. Der hatte Umbaupläne, aber keine Ahnung von baulichen Dingen. Goethe hatte die auch nicht, erbot sich aber, die notwendigen Risszeichnungen anzufertigen. Letzlich überließ er dies in Straßburg dann doch einem Baumenschen.
Interessant sind die Namen der das Pfarrgrundstück umschließenden Straßen. Die Hauptstraße ist nach Albert Fuchs benannt, die von ihr abgehende Nebenstraße nach Friederike Brion (immerhin trägt die Schule des Ortes ihren Namen). Fuchs war Literaturprofessor an der Universität Strasbourg. 1961 hinterließ er in der Geschichte des Dorfes deutliche Spuren, indem er für das ehemalige Wachhäuschen des Ortes ein „Goethe-Memorial“ konzipierte. Räumlich zerfällt es in zwei Teile: Im der Hauptstraße zugewandten empfängt den Besucher eine Kopie des mächtigen Weimarer Goethe-Kopfes von David d’Angers, verziert mit Napoleons „Vous êtes un homme!“ (wohl irgendwie im Sinne von „Du bist wenigstens ein Mann …“, seine Begrüßungsworte an Goethe in Erfurt 1808) und Paul Valerys Satz „Das Unerschöpfliche liegt in seiner Natur.“ Lassen Sie sich nicht vom Pathos abschrecken – gehen Sie durch die Seitenpforte an der Rue Frédérique Brion in den zweiten Raum. Hier finden Sie die „Sesenheimer Gedichte“ („Willkommen und Abschied“, das „Heidenröslein“, das „Mailied“), hier finden Sie die wenigen verbürgten Informationen über Friederike. Hier finden Sie alle Goethe-Texte, die irgendwie einen unmittelbaren Bezug zu den Sessenheimer Tagen haben.
Über die Liebe der beiden ist in den vergangenen 200 Jahren unendlich viel spekuliert worden. Das meiste ist interessengeleitet. Die einen wollen Goethe reinwaschen, nötigenfalls auf Kosten Friederikes, der selbst ernstzunehmende Literaturwissenschaftler uneheliche Kinder unter die Schürze jubelten – die sie natürlich im Waisenhaus deponierte (Faustens Margarethe lässt grüßen). Die anderen wollen dem Goethe noch postum eins auswischen, indem sie ihn quasi als deutschen Dichter-Don-Juan abstempeln, der verführte und fallen ließ, was ihm über den Weg lief.
Das ist alles Unsinn: „Ich war grenzenlos glücklich an Friedrikens Seite; gesprächig, lustig, geistreich, vorlaut, und doch durch Gefühl, Achtung und Anhänglichkeit gemäßigt. Sie in gleichem Falle, offen, heiter, teilnehmend und mitteilend. Wir schienen allein für die Gesellschaft zu leben und lebten bloß wechselseitig für uns.“ Es gibt keinen Grund, dieser Erinnerung des alternden Dichters nicht zu trauen. Die Jugendliebe muss ihn in ihren sonnigen Tagen – im Mai und Juni 1771 hielt er sich fünf Wochen in Sessenheim auf – tief geprägt haben. Ihr Ende brannte sich ihm so stark ein, dass die Friederiken-Geschichte immerhin zwei Kapitel seiner Lebenserinnerungen dominiert.
Das Ende war allerdings erbärmlich. Friederike und ihre dörflich-schlichte, stark protestantisch geprägte Familie haben diese Beziehung sehr ernst genommen. Im Dorfe galten die jungen Leute als verlobt. Mit den Tändeleien des Zeitalters der Empfindsamkeit wusste man in Sessenheim nichts anzufangen. Es galt das gesprochene Wort. „Ich liebe dich“ hieß eben, er liebt mich … „Man glaubte sowohl auf Friederikens Gesinnungen als auch auf meine Rechtlichkeit“, drückt Goethe das Jahrzehnte später etwas verschwiemelt aus. Die Liebste wurde dem jungen Manne selbst in Straßburg peinlich. Während eines Besuches in der Stadt trugen die Schwester und sie elsässische Tracht, die „Trendy-Klamotten“ jener Zeit waren ihnen fremd, wahrscheinlich auch zu teuer. („Die beiden Schwestern waren die einzigen in der Gesellschaft, welche sich deutsch trugen.“) Eine Ehe erschien dem jungen Goethe nicht erstrebenswert. Die Frankfurter Gesellschaft mitsamt den Eltern hätte die auch nicht akzeptiert.
Nur Friederike schien den bevorstehenden Bruch im Sommer 1771 nicht geahnt zu haben: „… sie schien nicht zu denken noch denken zu wollen, daß dieses Verhältnis sich so bald endigen könne.“ Goethe griff – wie so oft – zum Mittel der Flucht: „In solchem Drang und Verwirrung konnte ich doch nicht unterlassen, Friederiken noch einmal zu sehn. […] Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel zu Mute.“ Nicht einmal aus dem Sattel gestiegen war dieser Mistkerl … In Literatur gegossen liest sich das so: „Ich ging, du standst und sahst zur Erden / Und sahst mir nach mit nassem Blick: / Und doch, welch Glück, geliebt zu werden! / Und lieben, Götter, welch ein Glück!“
Der Liebsten aber zerriss es das Herz. Sie starb verarmt in den Armen der Schwester Sofie am 3. April 1813 im badischen Meißenheim. Das Grab ist erhalten. Auch das Grab der Eltern ist noch an der Sessenheimer Kirche zu sehen. Gleich gegenüber ist das Gasthaus „Zum Ochsen“. Die Wirtin pflegt liebevoll ein kleines Goethe-Museum. Zu sehen ist auch ein Zettelchen mit Schreibübungen Friedrikes. Sie übte Goethes Straßburger Anschrift. Ihre Briefe sind nicht erhalten. Die meisten Briefes Goethes an sie verbrannte Sofie. Wer sich in die Geschichte der beiden vertieft wird das verstehen. Sie können im „Ochsen“ darüber nachdenken. Familie Germain pflegt eine exzellente Küche – und der Gewürztraminer aus Ribeauville wird Ihnen das Nachdenken erleichtern.
Sessenheim ist ein Hauptort der deutschen Literatur.