21. Jahrgang | Nummer 7 | 26. März 2018

Maxim Gorki – zutiefst heutig

von Wolfgang Brauer

Nicht schon wieder! – will man aufstöhnen beim ersten Blick auf die Bühne. Wir wissen doch, dass die Tischler einen Kasten zimmern können. Und was soll die x-te Variante von „Onkel Wanja“… Wir wissen, der Gorki buhlte um die Gunst des von ihm hoch verehrten Anton Tschechow, der ließ sich auch gerne bauchmiezeln – aber Langzeitwirkung traute der Meister seinem dramaturgischem Epigonen nicht zu. Er sollte sich irren.
Und ich irrte mich auch. Unter der Regie von Daniela Löffner kam am 23. Februar im Deutschen Theater Berlin mit „Sommergäste“ (1905) eine der brillantesten Gorki-Inszenierungen der letzten Jahre heraus. Und das will etwas heißen angesichts der atemberaubenden „Kinder der Sonne“, die Stephan Kimmig 2010 mit Ulrich Matthes und Nina Hoss im selben Hause auf die Bühne brachte. 2014 inszenierte er hier dann noch „Wassa Schelesnowa“ mit Corinna Harfouch in der Titelrolle. Ganz anders dagegen 2015 Michael Thalheimers „Nachtasyl“ an der Schaubühne: Thalheimer deklassierte Gorkis Text eher zum Elendsporno, über dessen Protagonisten man sich so herrlich erhaben fühlen konnte. Und genau diese Haltung nimmt Löffner auf die Lanzenspitze.
Maxim Gorkis Stück schildert eine sich zutiefst langweilende Datschen-Community, die sich in mittelmäßigster Bürgerlichkeit, in „allgemeiner Sattheit“ (Kalerija – Linn Reusse gibt die früh verblühte Möchtegern-Poetin auf geradezu mitleiderregende Weise) eingerichtet hat. Die Truppe jammert permanent den idealistischen Träumen der Jugendzeit hinterher und scheffelt Geld durch Immobilien- und Bauspekulationen – großartig Alexander Khuons Saufkopf Bassow und Bernd Stempels Karikatur des in der Dichtung und im Leben scheiternden Mode-Autoren Schalimow. Dieses Stück ist mitnichten nur „Anklage der feudalen zaristischen Gesellschaft“, wie es uns das Programmheft weismachen möchte. Hier trifft sich eine sehr hiesige Sommergesellschaft, sagen wir mal auf einem nach ökologischen Grundsätzen perfekt restaurierten Bauernhof in der Uckermark und lässt ihren übersäuerten Weltschmerz raus: „Wir reden, reden nur immer – und tun nichts“, sagt Warwara Bassowa (Anja Schneider) an die Adresse des intellektuell heruntergekommenen Zynikers Rjumin (Pawel Franken) gerichtet.
Mit Verblüffung nimmt man zur Kenntnis, dass in Berlin immer noch (oder endlich wieder?) gutes Ensembletheater möglich ist. Löffner lässt ihren Schauspielern Raum. Faszinierend das Picknick zu Beginn des 3. Aktes. Wie Kathleen Morgeneyer als Julija Suslowa ihr „verpfuschtes Leben“ bejammert – um dann kurze Zeit später eben jenen Pfusch mit Zähnen und allen Krallen zu verteidigen –, das ist großes Theater. Morgeneyers entblößender Auftritt vor der Pause mit Peter Lichts „Gib mir eine neue Idee, schaffen wir uns ab“ dagegen nur überflüssige Publikumsanmache. Das spricht weder gegen Licht noch gegen Kathleen Morgeneyer. Sie ist eine der Entdeckungen des Abends. Und natürlich Anja Schneider! Ihre Warwara beherrscht ihn. Wenn der Arzt Dudakow (Andreas Pietschmann) á la Mode den Oblomow gibt („Wir sind doch alle furchtbar überflüssige Menschen!“), so weiß Warwara um den kommenden Untergang dieser „Intelligenzija“, die die eigene Herkunft verraten hat: „Und ich glaube, dass bald, vielleicht morgen schon, andere, starke, kühne Menschen erscheinen und uns wie Kehrricht vom Erdboden hinwegfegen werden.“
Zwei Monate nach der Uraufführung des Stückes öffnete der Zar mit dem Petersburger Blutsonntag die Büchse der Pandora… „Wir sind Sommergäste in unserem Land. Wir gehören nirgendwohin. Wir tun nichts.“ Dieser Befund ist ein sehr heutiger. Da war das Zittern einer Seismographennadel zu spüren. Das Premierenpublikum saß über vier Stunden in gespanntester Haltung. Chapeau, Daniela Löffner!
Am 28. März ist Maxim Gorkis 150. Geburtstag zu feiern. Besser als das Deutsche Theater Berlin kann man das nicht tun. Löffners Inszenierung ist ein handfester Beweis dafür, dass das Werk dieses Jahrhundert-Schriftstellers entschieden mehr als nur literaturgeschichtlichen Wert hat. Das gilt erst recht für die großen Romane, selbst für „Die Mutter“, die es verdiente, vom Schutthaufen vermeintlich „sozialistisch-realistischer Aneignung“ befreit zu werden. Holen Sie ihren Gorki wieder aus dem Regal!

Sommergäste, Deutsches Theater Berlin, wieder am 4., 9. und 18. April.