21. Jahrgang | Nummer 6 | 12. März 2018

Traditionserneuerer

von Peter Linke

Es hat schon bessere Zeiten erlebt, das Militärhistorische Institut des Russischen Verteidigungsministeriums (IWI MO). Gegründet 1966, entwickelte es sich schnell zum Zentrum der systematischen Auswertung und Beschreibung des Großen Vaterländischen Krieges (GVK). Die Krise setzte in den frühen 90er Jahren ein. Zwei Jahrzehnte später wurde die große Axt ausgepackt: Die bis dato mehr oder weniger selbstständig arbeitende Institution wurde als „Forschungsinstitut“ der Militärakademie des russischen Generalstabs (WA GSch) unterstellt.
2016 folgte eine neue Organisationstruktur, der unter anderem die Verwaltung für nationale Militärgeschichte ab 1941 sowie die Abteilung für militärgeschichtliche Methodologie zum Opfer fielen. Verdienstvolle Mitarbeiter wurden zwangspensioniert, die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen wie dem Institut für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN), dem Institut für Russische Geschichte der RAN sowie der Militäruniversität (WU) wurde weitgehend eingestellt.
Die Situation des IWI, klagt RAN-Mitglied Jewgeni Tschelyschew (*1921), Mitherausgeber des 12-bändigen Monumentalwerks „Der Große Vaterländische Krieg 1941–1945“, sei zugleich tragisch und ausweglos: tragisch, weil ein verdienstvolles, mehr als ein halbes Jahrhundert altes Institut zunehmend degradiere; ausweglos, weil sämtliche Rettungsversuche blockiert würden oder im Sande verliefen.
Gleichwohl mehren sich die Anzeichen dafür, dass dies nicht das Ende militärhistorischer Forschung in Russland bedeutet, sondern lediglich eine Art Schwerpunktverlagerung: von der prioritären Erforschung des GVK zu einer stärkeren Popularisierung militärhistorischer Erkenntnisse in der Truppe bei gleichzeitiger Fixierung neuer Forschungsschwerpunkte, mit denen aktuellen globalen militärischen und wehrtechnischen Entwicklungen Rechnung getragen werden soll.
Armeegeneral Waleri Gerassimow, Chef des russischen Generalstabs, erklärte in zwei Grundsatzreferaten vor Mitgliedern der Akademie für Militärwissenschaften (AWN) 2013 und 2017, charakteristisch für Kriege der Zukunft seien eine neue Unübersichtlichkeit, die massive Zunahme nichtmilitärischer Aktionen zur Durchsetzung politischer und strategischer Ziele und einander ergänzende Formen verdeckter und offener Gewaltanwendung. All das stelle verstärkte Anforderungen an die Militärwissenschaft: die intensive Beschäftigung mit spezifischen Formen smarten militärischen Handelns, etwa im Rahmen Friedenserhaltender Operationen, bei der Territorialverteidigung oder zur Abwehr asymmetrischer Bedrohungen.
Die Nutzung diverser Kräfte und Mittel – von westlichen Theoretikern hybride Kriegführung genannt – zeige sich insbesondere in Syrien, wo gleichzeitig traditionelle und nichttraditionelle Vorgehensweisen militärischen und nichtmilitärischen Charakters verfolgt würden (Konsolidierung des Protestpotenzials der Bevölkerung insbesondere über soziale Netzwerke, Strukturierung und Militarisierung der Opposition durch ausländische Instrukteure und private Militäragenturen ….) All dies verwische zunehmend die Grenzen zwischen dem, was gemeinhin als „Friedenszeit“ und „Kriegszustand“ bezeichnet werde.
Mit dieser Entwicklung zurechtzukommen, unterstrich Gerassimow, erfordere komplexe prognostische Verfahren. Voraussetzungen seien eine noch engere Verbindung zwischen Armee und Gesellschaft, mehr militärisch-zivilwissenschaftliche Interdisziplinarität, innovative Ausbildungsgänge für militärische Kader sowie die frühzeitige Verinnerlichung patriotischer Grundüberzeugungen.
Auf Konferenzen und Symposien bemühen sich russische Experten, die Überlegungen des Generalstabschefs mit Vorschlägen zu unterfüttern: Diskutiert werden unter anderem die Begründung eines neuen, interdisziplinären Studiengangs Nationale Sicherheit, mit dessen Hilfe die Präsenz militärischer Analysten und Pädagogen in staatlichen und akademischen Beratergremien verstärkt werden soll, aktuelle Fragen der Nationalen Verteidigungsführung (uprawlenije nazionalnoj oboronoj), wie die Gewährleistung technologischer Souveränität, neue Formen zwischenbehördlicher Sicherheitskooperation, die Rolle regionaler Stäbe für Territorialverteidigung bei der Lösung militärischer Aufgaben oder das Projekt einer militärischen Technopolis, genannt Era, als Wirkungsstätte junger Wissenschaftler, die sich in sogenannten Wissenschaftskompanien (nautschnyje roty) bewährt haben. Letztlich, so AWN-Mitglied Sergei Perschutkin, gehe es um die Überwindung einer allzu engen ingenieurtechnischen Sicht auf den Nationalen Verteidigungskomplex, um mehr politisch-soziologische Sensibilität in Sachen Nationale Sicherheit.
Allem Anschein nach erfordert all dies auch die Schaffung eines neuen Pantheons nationaler Militärtheoretiker. Kandidaten gibt es einige. Zwei wurden von Gerassimow selbst ins Spiel gebracht: zum einen Georgi Isserson (1888–1976), Ende der 30er Jahre Leiter des Lehrstuhls für Operative Kunst an der WA GSch, 1942 wegen „Verschwörung“ zunächst zum Tode, letztlich zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, danach Verbannung bis zur Rehabilitierung 1955. Heute von besonderem Interesse ist Issersons Analyse der deutschen Kriegsvorbereitungen gegen Polen („Kriege werden nicht länger erklärt, sie beginnen viel früher, in aller Stille und ganz allmählich.“), dargelegt in „Neue Formen des Kampfes“ (1940). Zum anderen Alexander Swetschin (1878–1938), seit 1918 tätig an der WA GSch (ab 1921 Generalstabsakademie der Roten Arbeiter- und Bauernarmee – RKKA), ab 1930 mehrmals verhaftet, schließlich wegen „konterrevolutionärer Umtriebe“ hingerichtet, rehabilitiert 1956. Sein hoher analytischer Anspruch („Jeder Krieg erfordert ein spezifisches strategisches Verhalten. Jeder Krieg ist einzigartig, folgt eigener Logik, duldet keine Schablonen.“), gepaart mit der Forderung nach größtmöglicher Bündelung aller zivilen und militärischen Mittel und Fähigkeiten „in einer Hand“, seine Idee eines „integrativen Feldherrn“ (integralnyj polkowodez), formuliert in seinem Hauptwerk „Strategie“ (1927), all das macht Swetschin in den Augen vieler russischer Sicherheitsanalysten zu einem höchst modernen Denker.
Gleiches gilt inzwischen auch für Michail Frunse (1885–1925), den in Bischkek geborenen legendären Widersacher Koltschaks und Wrangels, der als Volkskommissar für Armee und Flotte sowie Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrats den Umbau der demobilisierten RKKA in eine Kaderarmee vollendete.
Erst Anfang des Jahres widmete sich eine vom Zentralen Haus der Russischen Armee organisierte Konferenz dem „theoretische Erbe des hervorragenden Heerführers, Wissenschaftlers und Politikers“, würdigte dessen Beitrag zur Erarbeitung einer einheitlichen Militärdoktrin des proletarischen Staates, unterstrich die Aktualität seines Ansatzes für die Formulierung einer modernen Militärsoziologie.
2017 anlässlich seines 140. Geburtstages in einer Vielzahl von Veranstaltungen und Publikationen als wahrer Patriot und herausragender Militärdiplomat gefeiert wurde Alexej Ignatjew (1877–1954), Generalstabsoffizier, Militärattaché in Dänemark, Schweden, Norwegen (1907–1912), während des Ersten Weltkriegs Militärattaché in Frankreich und Vertreter Russlands beim französischen Oberkommando, 1936 Übersiedlung in die Sowjetunion, in den frühen 40er Jahren Mitbegründer des Militärinstituts für Fremdsprachen (WIIJa KA) sowie Initiator der sogenannten Suworow-Militärschulen, „spezieller militärischer Mittelschulen zur Vorbereitung künftiger Kommandeure der Roten Armee“. Oft als „Diplomat im Dienste zweier Imperien“ bezeichnet, erfreut sich Ignatjew aufgrund seiner Sprachkenntnisse und kulturellen Kompetenz insbesondere unter russischen Friedensstiftern (Blauhelmen) großer Beliebtheit.
Last but not least: Jewgeni Messner (1891–1974), glühender Weißgardist, während des Zweiten Weltkriegs in Belgrad Ausbilder von Kadern für das sogenannte Russische Wachkorps, das unter deutschem Kommando Strafoperationen gegen jugoslawische Partisanen durchführte, später Flucht nach Argentinien, wo er als freier Militäranalyst wirke. In seinen Büchern „Das Antlitz des modernen Krieges“ (1959), „Revolte – der Name des 3. Weltkrieges“ (1960) und „Weltrevoltekrieg“ (Wsjemirnaja mjateshewojna – 1971) entwickelte er das Konzept des sogenannten Revoltekrieges, einer neuen Form militärischer Konfrontation, in der als Kombattanten nicht länger reguläre Truppen, sondern Volksbewegungen in Erscheinung träten. Ziel derartiger Kriege sei nicht die Eroberung von Territorien, sondern die permanente „Gefangennahme“ der Herzen und Hirne der Menschen des gegnerischen Staates. Derartige Ideen, so Michail Alexandrow vom Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO), mache Messner zum Begründer der Idee moderner hybrider Kriegführung.
Alles in allem eine recht beeindruckende Mischung aus pro- und antisowjetischen Persönlichkeiten. Zumindest auf dem Gebiet der nationalen Sicherheit scheint das Prinzip „Kontinuität & Erneuerung“ zu funktionieren …