21. Jahrgang | Nummer 6 | 12. März 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal ein Vulkan mit Zeitgefühl, Gottsucher zwischen Jukebox und grünen Flaschen, eine Sensation der 1960er Jahre…

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„Ein Vulkan mit Zartgefühl“ – Hermann Kesten; „Jede ihrer Rollen eine Lektion in Sachen Humanität“ – Ivan Nagel; „Der unpolitischste politische Mensch“ – August Everding. „Auch den außergewöhnlichsten Charakteren bleibt in ihrer Darstellung immer ein hohes Maß innerer Logik und Folgerichtigkeit: die ‚Vernünftigkeit‘ bleibt immer wieder bemerkenswert.“ – Hans Mayer. „Es wäre mir daran gelegen, wenn Sie zum Ausdruck brächten, dass ich Therese Giehse für die größte europäische Schauspielerin halte.“ – Bertolt Brecht.
Richtig. Die Schauspielerin Therese Gift – ihre Schwester Irma bastelte den Künstlernamen Giehse aus den beiden ersten Buchstaben von Gift, den drei letzten von Therese und setzte ein Dehnungs-H in die Mitte –, Therese Giehse (1898–1975) gehört zu jenen Besonderen, die ein Theaterjahrhundert prägten. Sie war die erste „Mutter Courage“ (Zürich 1941), die erste Dürrenmattsche „Alte Dame“, die erste Irrenärztin von Zahnd in den „Physikern“ (Dürrenmatt wandelte die ursprünglich männliche Rolle für die G. ins Weibliche). Und sie war „Die Mutter“ in Peter Steins Eröffnungsinszenierung der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer. Auch war sie eng befreundet mit den Epoche machenden, exemplarisch gegensätzlichen Künstlerfamilien Thomas Mann und Bertolt Brecht. Sie stand auf engem Fuß mit Erika Mann (mit der sie im Zürcher Exil das „Pfeffermühlen“-Kabarett machte), mit Liesl Karstadt, Marieluise Fleißer oder Marianne Hoppe. War heftig umworben von fast allen Großen der Szene (Falckenberg, Kortner, Brecht) und zuletzt, sie kam nach 1945 als eine der wenigen Ausnahmen aus der Emigration zurück nach Bayern, zuletzt wurde sie umschwärmt von den damals Jungen wie Sperr, Kroetz, Fassbinder (der ihr zu „melodramatisch“ war). Und von Peter Stein, dessen „linkes Theater“ sie gern „anschieben“ half.
T.G. glänzte immer als ein Zentrum der Szene. Sie lebte stur, stolz, insgeheim auch schmerzlich ihre Autonomie („bin alleinig“), schwur aber demütig auf Ensemblegeist. Urige, herzwarme Saft- und Erdigkeit sowie schneidende Intelligenz waren eins in ihr.
Die Giehse, durch und durch bajuwarische Volksschauspielerin (aber zugleich sehr viel mehr als ein Münchner Kindl), dieses tolle, königlich-plebejische Theatertier war keine Schönheit, war ziemlich mopsig, weil Würstl, Wiesn und Maß innig liebend. Aber sie war doch „sehr viel weniger dick als begabt“, so der begeisternde Trost ihres großen Kollegen und Freunds Albert Steinrück. – Vor 120 Jahren, am 6. März 1898, wurde Therese Giehse in München geboren. Wir gedenken ihrer in Liebe.

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Die Szene eine schummrige Hotelhalle im Nirgendwo mit Treppe ins Nichts, gespenstisch vermüllt von Volker Hintermeier. Mit Tresen. Mit Batterien von verheißungsvoll grün schimmernden Suffpullen. Mit Jukebox, Sitz- und Lümmel-Möbeln, einem Hackklotz, drüber eine Wäscheleine mit Babysachen, Blindenarmbinden, Christenkreuz, daneben Ramsch aller Arten und Zeiten. Eine Chaos-Kammer in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin voller (Frage-) Zeichen; an der Rampe das gelbe Absperrband der Ordnungshüter POLICE LINE DO NOT CROSS – ein letzter Hinweis auf die irre innere Unordnung der Hotelbesitzerin: Es ist Barbara Schnitzler, die so nüchtern wie möglich, so herzig wie nötig im Existenzialisten-Modus paradiert. In dem etwas läppischen Drama „Das Missverständnis“ von Albert Camus. Die Schnitzler gibt die Mama Hausdame, assistiert von Linda Pöppel als Tochter Maria.
Der gute alte Camus teilt uns zwischen Grauen und Gelächter in seinem „Schauspiel in drei Akten“ von 1941 in teils grotesk-lustig aufgelöster Sprache („Dingen, Dingeling, dong, dong“) freilich nichts umwerfend Neues mit: Beispielsweise das Menschenleben sei schwierig oder sinnlos, die Freiheit mörderisch, die Welt überhaupt unvernünftig, ein Missverständnis und nur zum Untergang geschaffen. Aha!
Wäre da nicht der hellsichtig entrückte, abgründig liebevolle, zart zynische Jürgen Kruse, dieser rockig traumtänzerische Wundertüten-Regisseur mit seiner unseren moderaten Herzschlag enorm peitschenden Plattensammlung, wir würden uns tödlich langweilen mit diesem gefühlt uralten Das-Dasein-ist-Scheiße-Drama.
Doch dafür interessiert sich Kruse klüglich kaum. Freilich, den Plot lässt er, mit folgsamem, dabei fein belustigtem Blick auf den Autor, korrekt raus. Dieser arg ertüftelte Plot geht so: Nach langer Abwesenheit kehrt nach „19,99 Jahren“ der vermeintlich verlorene Sohn namens Jan (Manuel Harder), ein das Testosteron sintflutartig ausschüttender Kerl, zurück ins Hotel Mama (die Schnitzler). Leider wird er weder von Schwester noch von Mutti erkannt (der Dussel sagt aber auch nix). Also murkst ihn letztere ab und schmeißt ihn in einen nahen Fluss. So hält man es nämlich gern gewinnbringend mit Gästen dieser Herberge. Das hinterlassene Geld der bislang allerhand Toten verbessert die klamme Kasse. – Doch als Mama morgens in der Frühe in den Pass der Wasserleiche schaut: Zusammenbruch.
Anlass für ein Großgeschrei, faszinierend martialisch, ordentlich existenzialistisch. Eine tolle Nummer für die große Barbara Schnitzler. Anfangs gibt sie bis hinein in die Artikulation die aparte Königin des kaltschnäuzigen Sarkasmusʼ; des vornehm Rüden. Ein elegant souveränes Miststück. Dann aber, wie gesagt, kommt ihr alle Welt erschütternder Schmerzensschrei als Muttertier, als Kindsmörderin. Unheimlich. Schrecklich.
Die Story soll, so der Autor, hinreichen für eine moderne Tragödie. Der Regisseur pfiff drauf. Er inszenierte einfach ein-sein Menschen-Gruselstück. Einen mal wüstenheiß, mal eisig durchwehten Horrortrip auf windiger Geisterbahn – immerhin auch ein taugliches Daseinsgleichnis, wehmütig untermalt von Bob Dylans „Blowinʼ in the Wind“.
Trotzdem fragt da frech ein Leuchtkasten, installiert am Bühnenrand: „Chambre? Liberté?“Also keine Behausung, keine Freiheit, kein gutes Dasein auf dieser Welt. Aber da blinken unübersehbar die beiden Fragezeichen…
Tja, wer schon weiß genau Bescheid in Kruses so spielerisch ins Unendliche bummelnder Phantasterei, diesem Albtraum-Trip, in den – auch das noch! – von oben ein Batzen Weltraum schwebt. Zum beglückenden Erstaunen. Zum Erschrecken.
Und zwischendurch fesselnde Pop-Oper. Mit dem – als Leitsatz passend für diese saftige Seltsamkeits-Séance – krächzenden Solo Wolf Biermanns aus dem Lautsprecher: „Vom Himmel fallen auf die Erde die Engel sich tot“. Stark gesagt! Feines Motto für diese Meditation über – ja worüber: vielleicht übers Missverständnis des Lieben Gottes, als er guten Glaubens die Menschheit schuf und fatalerweise erkennen muss/musste: Der Mensch, ein missratenes Projekt.
Kann auch sein, Kruse sieht in Camusʼ Mordsding ein Auferstehungsstück. Immerhin reißt er am Ende die Traumata-Kammer weit auf. Eislicht stürzt aus apokalyptisch schwarzem Bühnenhimmel. Und an der Bühnenrampe herzt Martha (Alexandra Finder), die Frau von Jan, den die Mama soeben ins Jenseits beförderte, ihr just geborenes Baby (eine Babypuppe). Sexy Jan hat also Gott sei Dank (oder etwa nicht?) für den Fortbestand der Menschheit gesorgt. – Ist also Camusʼ Endspiel-Betrieb etwa nicht für immer beendet? Läuft der Laden irgendwie weiter? Ist die Tür zum Paradies noch einen Spalt breit offen? Hat man was zu tüfteln…

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Als Wilfried Minks mit 30 Jahren antrat als Bühnenbildner, war – wie es hieß – die Bühne „entrümpelt“; was man avantgardistisch meinte. Es war im Nachkriegsdeutschland der (opportunistische) Versuch, an die vom NS-System abgebrochene Moderne anzuknüpfen. Dafür prototypisch: Wieland Wagners Neubayreuth. – Minks im Rückblick: Überhaupt sei Kunst damals „konstruiert und beliebig“ oder „tiefgründig und behutsam“ gewesen. „Kühles Kunstgewerbe oder monumentaler Kitsch“ – frei von jeglicher Deckung mit „gesellschaftlicher Realität“.
Als Minks, mit den Eltern aus Böhmen gekommen, nach Studien in Leipzig und Westberlin unter Kurt Hübner ins Erstengagement am Ulmer Stadttheater trat und dort auf Regisseur Peter Zadek traf, da betrieb er Entrümplung für Fortgeschrittene; löste den Naturalismus ab, den Kulissenillusionismus. Etwas später in Bremen, mit Hübner und Zadek, sollte das Epoche machen: Minks entleerte die Bühne vom verblasen dekorativ Modernistischen und setzte in seine neutralisierten Räume knallig zeichenhafte, frappierend gegenwärtige Gebilde. Claus Peymann: „Er war die Sensation der 1960er Jahre.“ – Dem Publikum, und allen Kollegen dazu, schlugen die sich unauslöschlich in Gehirn und Gemüt: Minks hängte in seinen Bühnen-Leerraum für Wedekinds Tragödie „Frühlings Erwachen“ das Riesenfoto eines Mädchenporträts (die Schauspielerin Rita Tushingham). Für Shakespeares „Maß für Maß“ säumte er die leere Bühne mit einem disco-gemäß grell blitzenden Glühbirnenrahmen. In Schillers „Räuber“ war der Rundhorizont eine Comic-Sequenz des Popartisten Roy Lichtenstein.
Drei suggestive Bilder für Regisseur Zadek, frei von „kleinbürgerlicher Bevormundung, schulmeisterlicher Aufklärung, moralischem Appell“, so Minks. Drei Ikonen der Theatergeschichte, die fortan und bis heute alle Bühnenbildnerei inspirieren. Optisch überwältigend waren sie nicht nur gut erkennbare, sondern zugleich geheimnisvoll zeitgenössische Sinnbilder für die Intentionen des Autors. Obendrein setzten sie bis dato ungeahnte Fantasien für Regisseur und Schauspieler frei. Und provozierten eine neue Freiheit im Umgang mit dem Text (als „Material“). Minks war ein, wenn nicht der Geburtshelfer dessen, was heute Regisseurstheater geheißen wird.
Minks, der stämmige, der leutselige böhmische Bauernsohn sei, so Zadek, Praktiker und Phantast, „eine ganz einmalige Figur im deutschen Theater!“ Er machte ganz groß Schule und hatte trotzdem keinen Stil – als Szenarist wie auch als Regisseur an allen großen deutschsprachigen Theatern. Dazu sagt er: „Ich muss immer differenzierter, muss vor allem unauffälliger arbeiten.“ Und mit Blick auf eitle Youngster: Unser „Daseinsprinzip Vielfalt“ brauche keine „erobernde Ästhetik“, keine „egomanische Moral“.
Wie erst kürzlich bekannt wurde, ist Wilfried Minks bereits vor vier Wochen, am 13. Februar, kurz vor seinem 88. Geburtstag in Berlin gestorben.