von Bernhard Mankwald
Die Blättchen-Sonderausgabe 3/2017 geht das Thema „100 Jahre Oktoberrevolution“ erfreulich unbefangen und kritisch an. Trotzdem sind immer noch Restbestände eines verengten Blicks auf die Realitäten festzustellen. So bezeichnet Jörn Schütrumpf in seinem Beitrag gleich drei Staatswesen verschiedener Epochen und Regionen in praktisch identischer Formulierung als „bourgeoise Diktatur in der Form parlamentarischer Demokratie“:
- das, was aus der Weimarer Republik seiner Meinung nach bei einer friedlicheren Entwicklung hätte werden können,
- das, was nach der totalen Niederlage unter Aufsicht der Westmächte aus der Bundesrepublik tatsächlich geworden ist, und schließlich
- ein vages Zukunftsszenarium, das er für das heutige Russland mittelfristig sieht.
Eine Perspektive aber, die drei in ihrer Entwicklung derart verschiedene Staatsgebilde unter die gleiche stereotype Formel fasst, wird man wohl als dogmatisch bezeichnen dürfen.
Karl Marx sprach von einer „Diktatur der Bourgeoisie“* vor allem mit Bezug auf die Entwicklung in Frankreich nach der Revolution von 1848. Die neugebildete provisorische Regierung war von Anfang an gespalten in bürgerliche Kräfte, die die bestehenden Eigentumsverhältnisse wahren wollten, und ärmere Teile der Bevölkerung, die die Revolution weitertreiben wollten, um dadurch ihre wirtschaftliche Notlage zu lindern. Ausgetragen wurde dieser Interessengegensatz schließlich mit militärischen Mitteln unter Führung des Generals Louis-Eugène Cavaignac. Für Marx war das „nicht die Diktatur des Säbels über die bürgerliche Gesellschaft“, sondern „die Diktatur der Bourgeoisie durch den Säbel“. Dies änderte sich aber bald, als nach verschiedenenen Zwischenstufen schließlich die „Diktatur Bonapartes“ folgte, in der nach einer Einschätzung von Friedrich Engels „die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält“ – und sich damit auch die Bourgeoisie unterwerfen konnte.
Beiden Autoren fiel es nicht ein, den Begriff der Diktatur auf Großbritannien anzuwenden. Die dortigen Zustände sind ja noch heute wenigstens der Form nach eher dem feudalen Despotismus zuzurechnen, da die Königin in vielen Dingen sehr weitreichende Sonderrechte besitzt. Allerdings sind die englischen Monarchen seit zwei erfolgreichen Revolutionen vor mehr als 300 Jahren so klug, die praktische Ausübung dieser Rechte der Regierung zu überlassen; deshalb sprach Engels auch vom erfolgreichen „Ringen des britischen Bürgertums um die soziale und politische Vorherrschaft“ – eine Vorwegnahme des Konzepts der „Hegemonie“, von dem noch die Rede sein wird.
Mit Blick auf die deutschen Verhältnisse bezeichnete Marx Bismarck als „Diktator der deutschliberalen Bourgeoisie“ – also als deren Interessenvertreter, aber zugleich auch als Diktator über sie. Engels formulierte diesen Gedanken treffend, als er schrieb, Bismarck habe „der deutschen Bourgeoisie ihren Willen gegen ihren Willen getan“. Für Marx wiederum war das preußisch-deutsche Reich „nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der Begriff „Despotismus“ und seine Ableitungen bei Marx und Engels häufiger vorkommen als derjenige der Diktatur. Auch Wolfgang Scheler erklärt in der erwähnten Blättchen-Sonderausgabe unter Berufung auf Rudolf Bahro die Herrschaft Stalins sehr einleuchtend mit dem Konzept der „Ökonomischen Despotie“. Unter Stalin war es der Lebenserwartung sicher sehr abträglich, sich mit solchen Konzepten auseinanderzusetzen; heute ist es ein Zeichen dogmatischer Prägung, sie zu meiden. Und Beachtung verdient dabei auch die Frage, inwieweit diese Tendenzen etwa im polemischen Stil Lenins und in seinem Konzept des Parteiaufbaus bereits angelegt waren.
Das Schicksal der Weimarer Republik wurde nicht etwa durch das Parlament entschieden, sondern durch die „Diktatur des Reichspräsidenten“, so damalige führende deutsche Staatsrechtler mit Carl Schmitt an der Spitze, der sich für eine sehr weitgehende Auslegung dieser Rechte einsetzte. Und dieser Reichspräsident war in der entscheidenden Phase der Republik eben kein Bourgeois, sondern ein adliger Grundbesitzer und ehemaliger preußischer Feldmarschall.
Die Bundesrepublik stand in ihren ersten Jahren in einer ähnlich autoritären Tradition; die jüngsten Erfolge der AfD zeigen, dass diese durchaus fortwirkt. Die momentanen Querelen darüber, wer in eine zukünftige reguläre Bundesregierung eintreten darf oder muss, wirken dagegen nicht wie eine diktatorische Inszenierung, sondern eher wie das Werk mäßig begabter Vorabend-Serienautoren.
Generell lässt sich die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft am ehesten mit Hilfe des von Antonio Gramsci entwickelten Konzepts der ökonomischen und kulturellen Hegemonie erklären. Typisch dafür ist das Bestreben, eher durch Konsens als durch Zwang zu herrschen. Die aktuelle Situation zeigt allerdings, dass es nicht unbedingt leichter wird, diesen Konsens herzustellen. – Zur gegenwärtigen bürgerlichen Hegemonie und zu den Schwierigkeiten, ein Gegenkonzept zu ihr zu entwickeln, verweise ich auf meine Beiträge in den Blättchen-Ausgaben 23/2012, 25/2012 und 2/2013.
Wer sich soweit mit dem Konzept der „Diktatur der Bourgeoisie“ beschäftigt hat, stellt sich vielleicht die Frage, was Marx denn wohl mit dem von ihm präsentierten Gegenkonzept der „Diktatur des Proletariats“ gemeint haben mag. In meinem 2010 erschienenen Buch „Das Rezept des Dr. Marx“ beantwortete ich diese Frage so: „Die formulierte Aufgabe kann man darin sehen, das komplexe demokratische Instrumentarium zu entwickeln, mit dem die Mehrheit der Bevölkerung die Umsetzung einer Politik in ihrem Interesse kontrollieren und steuern kann, die nur mit konzentrierten Kräften zu verwirklichen ist.“ An einer späteren Stelle zog ich daraus folgenden Schluss: „Die Grundfrage der Diktatur des Proletariats ist also, ob schließlich das Proletariat mit der Diktatur fertig wird – oder aber die Diktatur mit dem Proletariat.“ Und gegen Inhaber der diktatorischen Gewalt wie Lenin und später Stalin hatte die russische Arbeiterklasse letzten Endes keine Chance; das bestätigt auch die Lektüre der Blättchen-Sonderausgabe „100 Jahre Oktoberrevolution“.
* – Alle Zitate nach – Bernhard Mankwald: Das Rezept des Dr. Marx, Books on Demand, Norderstedt 2010, 104 Seiten 7,80 Euro.
Schlagwörter: Bernhard Mankwald, Diktatur der Bourgeoisie, Diktatur des Proletariats, Oktoberrevolution