von Wolfgang Brauer
Die Bilder von Otto Dix, George Grosz und Rudolf Schlichter – wenn es hochkommt noch Max Beckmann und Otto Nagel – prägen zumeist unser Bild der deutschen Kunst der 1920er Jahre. Dazu natürlich die Abstrakten der diversen „-ismen“. Und ganz fest im visuellen Unterbewusstsein eingebrannt ist das Bild der „Neuen Frau“, das sich für viele exemplarisch am „Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden“ (Mischtechnik auf Holz, 1926, Musée National dʼArt Moderne Paris) von Otto Dix festmacht. Das trifft es aber eher nicht. Da steckt bei aller Bewunderung Dixens für sein Modell doch ein Gran zu viel Distanz und Ironie im Portrait. Ganz anders die trotz intensiver Bemühungen diverser Galerien und Museen noch immer nur wenigen vertraute Berliner Künstlerin Jeanne Mammen (1890–1976). Auch Mammen widmete sich den jungen Frauen der „Goldenen Zwanziger“. Sie romantisiert sie nicht, sie lässt aber auch nicht zu, dass die Hand einen zynischen Unterton in die Darstellung selbst zweifelhafter Gestalten einbringt.
Kurt Tucholsky hat sich in den „Antworten“ im Heft 32/1929 der Weltbühne zu einem auch für ihn seltenen überschwänglichen Loblied hinreißen lassen: „Die zarten, duftigen Aquarelle, die Sie in Magazinen und Witzblättern veröffentlichen, überragen das undisziplinierte Geschmier der meisten Ihrer Zunftkollegen derart, daß man Ihnen eine kleine Liebeserklärung schuldig ist. Ihre Figuren fassen sich sauber an, sie sind anmutig und dabei herb, und sie springen mit Haut und Haaren aus dem Papier. In dem Delikatessenladen, den uns ihre Brotherren wöchentlich oder monatlich aufsperren, sind Sie so ziemlich die einzige Delikatesse.“ Tucholsky meinte Blätter wie Die schöne Frau oder Der Junggeselle, aber auch den Simplizissimus. Immerhin hatten diese Journale recht hohe Auflagen und zahlten gut. Mammens Kunst wurde auf diese Art stilprägend. Der kessen Schlanken mit Bubi-Kopf, Zigarette und krempenlosem Hütchen auf der ständigen Jagd nach einem Fitzelchen Glück in den Schluchten der Großstadt gehörte ihre Sympathie. Wer Irmgard Keuns Doris („Das kunstseidene Mädchen“, 1932) auf der Suche nach dem „Glanz“ sehen möchte, muss sich die Arbeiten Jeanne Mammens aus jenen Jahren ansehen.
Derzeit ist das in der Berlinischen Galerie möglich, die Jeanne Mammen eine große Retrospektive widmet. Kuratiert wurde die Ausstellung von Annelie Lütgens, der wohl profundesten Kennerin des Werkes der Mammen. Lütgens präsentiert 170 Arbeiten aus allen Schaffensjahren der Künstlerin. Man sollte sich viel Zeit mitnehmen. Es lohnt sich. Die 1920er Jahre sind allerdings nur ein, wenn auch sehr wesentlicher Abschnitt im Gesamtwerk – das in dieser Zeit aber eine Dichte des Ausdrucks erreicht, die verblüfft.
1928/29 malte Mammen die Exzentrik-Tänzerin Valeska Gert (1892–1978). Das Bild (Öl auf Leinwand) gehört heute der Berlinischen Galerie. Es zeigt die Gert in einem Augenblick der höchsten Anspannung. Jeden Moment kann dieser Gefühlsvulkan explodieren. Es gibt nur ganz wenige Bilder, die das Wesen guten zeitgenössischen Tanzes in einer derartigen Komprimiertheit so punktgenau ausdrücken. In derselben Zeit entstanden die „Revuegirls“ (Öl auf Pappe, Berlinische Galerie). Der Idealzustand der zahlreichen Girl-Truppen jener Jahre war ein vollkommen entindividualisierter Gleichklang. Die beiden von Jeanne Mammen im Halbprofil dargestellten Frauen demonstrieren jedoch durchaus Persönlichkeit, auch wenn ihre Kunst sie auf den ersten Blick gleichsam zur Uniformität zu zwingen scheint. Die beiden zitierten Gemälde bilden eine Art „Rahmen“ für den Gang durch die Abteilung mit den Arbeiten der späten 1920er und frühen 1930er Jahre. Hier wird auch in Berlin bislang Nicht-Gesehenes gezeigt, so die Blätter aus der Sammlung des Busch-Reisiger Museums der Harvard Art Museums Cambridge (MA). Die „Künstlerehe“ (Aquarell, 1928) ist beispielgebend für den unbestechlichen Blick Jeanne Mammens auf die von ihr gezeigten Realitäten. Dennoch – das ist anders als bei den ungleich berühmteren Männern –: die Frau wird von ihr nicht als Verworfene gezeigt, die sich gleichsam für ein Butterbrot wegwarf. Unter den langen Klimper-Wimpern lugt immer noch ein Schimmer Sehnsucht hervor, die auch die skurrilsten Typen mit einem Hauch Sympathie überzieht. Erklärbar ist das nur durch die Zuneigung der Künstlerin zu „ihren“ Frauen.
Die Suche nach dem Glück ist auch Thema einer Folge großformatiger Lithos zu „Die Lieder der Bilitis“ von Pierre Louÿs, die Mammen 1931–32 für die Galerie Gurlitt schuf. Die Blätter bedienen mitnichten den antikisierenden erotischen Schwulst des Poeten: Mammen zeigt Schönheit und Hässlichkeit lesbischer Liebe im Berlin der Endzwanziger. Ihr gelingen mit zartem Strich Blätter intimster Schönheit. „Auf Kunst“ machender Voyeurismus – das meinte Tucholsky – ist ihr fremd. Auch bei der Darstellung hässlichster Abgründe von Prostitution und billigstem Tingeltangel ist ihr Blick an keiner Stelle denunzierend.
Ganz anders sieht das mit einer Folge von mit hartem Bleistift gezeichneten Portraits aus, die sie ab 1933 am Rande von ihr besuchter Akt-Kurse von ihren Mitkursanten anfertigte. Die Ausstellung präsentiert eine gut gehängte Auswahl dieser in heftigem Kontrast zu den Arbeiten der 1920er Jahre stehenden Zeichnungen. Eberhard Roters, der Begründer der Berlinischen Galerie, bezeichnete diese Blätter einmal als einzigartige Darstellungen des Gesichtes des Berliner Spießertums der 30er Jahre.
Der Machtantritt der Nazis leitete, wie Mammen selbst einmal sagte, das Ende ihrer „realistischen Periode“ und den „Übergang zu einer den Gegenstand aufbrechenden aggressiven Malweise“ ein, die sie als bewussten „Kontrast zum offiziellen Kunstbetrieb“ verstanden wissen wollte. Wahrscheinlich sah sie 1937 in Paris, der geliebten Stadt ihrer prägenden Kindheits- und Jugendjahre, Pablo Picassos „Guernica“ im spanischen Pavillon der Weltausstellung. In der Folge entstanden Bilder mit sehr expressiv kubistischer Formensprache in teils schreienden Farben. Wer um den Fanatismus weiß, mit dem die NS-Kunstrichter auch die leisesten Versuche moderner Stilmittel ahndeten, wird mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass diese teils hochpolitischen Werke mitten im faschistischen Berlin in einer Hinterhofwohnung am Kurfürstendamm entstanden. Verwunderlich ist das mitnichten. Jeanne Mammen verweigerte sich dem Kunstbetrieb des Dritten Reiches komplett. Diese Arbeiten bekamen nur die engsten Freunde zu Gesicht. Die Bilder überstanden den Krieg. Dass sie in der Ausstellung irgendwie eine Randexistenz führen, hat mit der unglücklichen Raumsituation des Galeriegebäudes zu tun. Die Wände in der großen Treppenhalle sind für diese Formate nicht sonderlich geeignet.
In zwei separaten Räumen hingegen die Nachkriegsarbeiten. Jeanne Mammen zeichnete wieder für die Presse – so schuf sie für den Ulenspiegel Herbert Sandbergs (Heft 26/1946) ein Titelblatt, das zur Teilnahme an den Wahlen aufruft. Sie unternahm bemerkenswerte plastische Versuche und arbeitete mit ungewöhnlichen Materialien wie den Schnüren von Care-Paketen, die sie zu Materialienbildern verarbeitete. Die Pakete kamen von Max Delbrück, mit dem sie seit 1935 befreundet war. Das Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin-Buch widmet sich entsprechend intensiv auch der Pflege des Erbes Jeanne Mammens. Zu dessen Sammlung gehören bemerkenswerte Arbeiten des Spätwerkes wie „Photogene Monarchen“ (Öl und Stanniol auf Papier, 1967), das sich mit ätzendem Spott mit dem offiziellen West-Berliner Politkult um den persischen Schah Reza Pahlavi und dessen Frau Fara Diba auseinandersetzt. Wer die Stanniol-Materialien näher betrachtet wird feststellen, es handelt sich um Bonbon- und Schokoladenumhüllungen…
Die Ausstellung schließt ab mit dem Ölbild „Verheißung eines Winters“ (1975, Jeanne-Mammen-Gesellschaft Berlin). Das Bild ist fast ganz in dick aufgetragenem Weiß gehalten. Nur wenige stark reduzierte Zeichen tauchen wie in Nebel gehüllt auf, ein stilisierter kleiner Totenkopf im Zentrum. Es sollte das letzte Bild der Jeanne Mammen gewesen sein. Todesahnung?
Der Ausstellungstitel („Die Beobachterin“) ist ein understatement. Jeanne Mammen war mehr. Lassen Sie sich die Möglichkeit des Ganges durch ein Jahrhundertwerk nicht entgehen.
Jeanne Mammen. Die Beobachterin. Retrospektive 1910–1975, Berlinische Galerie. Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, noch bis zum 15. Januar 2018, Mittwoch bis Montag 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr; Katalog im Hirmer-Verlag.
Schlagwörter: Annelie Lütgens, Berlinische Galerie, Jeanne Mammen, Materialbilder, Neue Frau, Neue Sachlichkeit, Wolfgang Brauer