20. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2017

Eine Dichterin kehrt zurück

von Mathias Iven

Im Juni 1939, nach 17 Jahren im Exil, kehrte Marina Zwetajewa in die Sowjetunion zurück. Zu den wenigen Habseligkeiten, die sie bei sich hatte, gehörten vier Schreibhefte. Neben Entwürfen zu Gedichten oder Briefen, spontanen Aufzeichnungen oder Tagesprotokollen enthielten sie viel Persönliches, ihre Arbeit, sie selbst und ihre Familie Betreffendes. Die Eintragungen, die sie 1932/33 sowie 1938 aus ihren Schriften zusammengetragen hatte, folgten dabei nicht immer einer Chronologie. Mit den jetzt erstmals auf Deutsch erscheinenden Heften versuchte Zwetajewa, so der Herausgeber Felix Philipp Ingold, „so etwas wie einen Nachlass zu Lebzeiten zu erarbeiten“.
Für Marina Zwetajewa, deren Geburtstag sich in diesem Jahr zum 125. Mal jährt, war jede Begegnung mit einem Buch oder einem Dichter „eine Wohltat von ganz oben“. Den Wert eines Buches machte sie „an der unbedingten Dringlichkeit zu exzerpieren“ fest: „Wenn es nichts zu exzerpieren gibt oder es gibt etwas, aber die Zeit drängt nicht, dann brauch ich’s auch nicht. Die Unbedingtheit muss die Hand erhitzen, der Bleistift – das Papier.“ Unter ihren Lieblingsbüchern – „ohne die (derentwegen) man im Grab nicht zur Ruhe kommt“ – fand sich „kein einziges literarisches Werk“, nur Briefe, Memoiren, Tagebücher, für Zwetajewa „lebendiges Fleisch (der Seele!)“.
Geradezu „besinnungslos“ liebte sie Gedichte. Gedichte waren für sie wie ein Haus. „An Gedichten“, so ihre Erfahrung, „braucht man nicht zu arbeiten, der Vers selbst muss an einem (in einem!) arbeiten.“ Das Schaffen des Dichters sei nichts anderes als „eine Reihe von Fehlern, eine Abfolge von einander bedingenden Verzichtleistungen. Jede Zeile – und sei’s bloß ein Aufschrei! – ist Gedankenarbeit allüberall in seinem Gehirn.“ Gedankenarbeit, der sich Zwetajewa am liebsten fernab des Alltags widmete: „Ich fühle mich ungut unter Menschen, weil sie mich beim Lauschen: auf meine Seele – oder einfach auf die Stille – stören. Wie lärmig sie sind! Ohne Klang. Leerer Lärm.“
Zwetajewas Aufzeichnungen widerspiegeln die Zerrissenheit ihres künstlerischen und privaten Lebens, die vielerlei Ursachen hatte. Für sie gab es jedoch keinen Zweifel: „Der Hauptgrund liegt darin, dass ich – ich bin.“ Das aber hieß nichts anderes, als dass ihr Ich-Sein ihr zugleich im Wege stand. So musste sie sich eingestehen: „Ich habe in meinem Leben niemals das getan, was ich nicht will, und auch niemals – das, was ich will.“
Am 31. August 1940 offenbarte sich Zwetajewa gegenüber der Lyrikerin und Übersetzerin Vera Merkurjewa: „Ich bin von Natur aus sehr fröhlich. […] Ich brauchte sehr wenig, um glücklich zu sein. Meinen Tisch. Die Gesundheit meiner Familie. Beliebiges Wetter. Völlige Freiheit. – Nichts weiter. – […] Das Leben sollte sich über einen glücklichen Menschen freuen, sollte seine seltene Gabe unterstützen. Denn vom Glücklichen geht Glück aus. Von mir ging es aus. […] Die Versuche meiner Freunde rühren und verstimmen mich. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich noch am Leben bin.“ Und fünf Tage später notierte sie: „Alle halten mich für beherzt. Ich kenne keinen ängstlicheren Menschen als mich. Alles macht mir Angst. […] am meisten – ich selbst, mein Kopf […] Seit einem Jahr probiere ich mir den Tod an. […] Ich will nicht – sterben, ich will – nicht sein.“
Ein Jahr darauf galten ihre letzten Gedanken dem einzigen Sohn Georgij. Ihm, der nach E. T. A. Hoffmanns bekannter Romanfigur im Familienkreis nur Murr genannt wird, gab sie als Devise für sein weiteres Leben die Forderung mit: „Lass dich nie herab!“ In ihrem an ihn gerichteten Abschiedsbrief vom 31. August 1941 hieß es: „Murrchen! Vergib mir, aber weiterzumachen wäre schlimmer. Ich bin schwer krank, das bin schon nicht mehr ich. […] Du sollst begreifen, dass ich nicht mehr leben konnte. […] erkläre [Papa und Alja], dass ich in eine Sackgasse geraten bin.“ – Noch am selben Tag setzte Marina Zwetajewa ihrem Leben ein Ende.
Mit Zwetajewas Schreibheften liegt ein Dokument von ungeheurer Eindringlichkeit und Intensität vor. Neben allen Zweifeln am Sinn des Lebens – und vor allem an der Arbeit des Dichters – spricht aus ihren Zeilen dennoch der Mut zum Leben. Nach solcherart Auftakt darf man gespannt sein auf die vom Suhrkamp Verlag angekündigte vierbändige Ausgabe ihrer Gesammelten Werke.

Marina Zwetajewa: „Unsere Zeit ist die Kürze“. Unveröffentlichte Schreibhefte, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 319 Seiten, 28,00 Euro.