von Heino Bosselmann
Zum ersten Mal werde ich CDU wählen, in Gestalt der für meinen Wahlkreis aufgestellten Spitzenkandidatin Angela Merkel. Noch nie fiel meine Entscheidung so eindeutig aus – in dem fragwürdigen Vorsatz, eine Art deutsches Perikleisches Zeitalter noch eine Weile sichern und erleben zu können, gerade weil das so nicht mehr lange gutgehen kann. Und: Weil’s besser kaum geht. Wie auch jenes Perikleische Zeitalter selbst das letzte Kapitel einer scheinbaren Blütezeit vor der großen Krise war, in der sich die Poleis in sich und gegeneinander verschlissen.
Diesen Vergleich finde ich durchaus stimmig. Denn wann je stand Deutschland – wie einst Athen von einem Bündnis und seiner Spitzenposition in demselben profitierend – so gut da, so in der Blüte, dass es nur noch bergab gehen kann? Nicht nur, dass wir so komfortabel wohnen, so gut essen, so reichlich konsumieren wie nie und alle Vollbürger dicke SUVs fahren; nicht nur, dass „Demokratie“ und „Gerechtigkeit“ bis zur Penetranz beschworen werden, nein, wir erleben sogar eine Art Quasi-Sozialismus, der den Schwächsten der Gesellschaft auf Discounter-Niveau das Auskommen sichert und bemüht ist, von diesem bescheidenen Level aus wiederum einen Aufstieg in „sozialversicherungspflichtige Beschäftigung“ zu ermöglichen.
Diese Grundsicherheit per Grundsicherung wird begleitet von einem propagandistisch anmutenden Aufwand an phänomenalen Antidiskriminierungsbemühungen. Allein für das Bildungssystem gilt: Sobald eine Benachteiligung – welcher Art auch immer – signalisiert oder diagnostiziert wird, läuft ein ganzes System an Nachteilsausgleichen an, und zwar so aufwendig, dass über diese Fürsorge gegenüber Limitierten schon jene zu kurz kommen, die nicht am Limit sind, sondern als künftige Leistungsträger intensiver gefordert werden müssten.
Die fürs Bildungswesen zur Leitlinie avancierte „Inklusion“ soll gar für die gesamte Gesellschaft gelten, die aus ihren problematischen Gerechtigkeitsvorstellungen heraus erstmalig alle sozial Benachteiligten und überhaupt einstige Sondergruppen mitgenommen wissen möchte, und zwar – darin wiederum „sozialistisch“ – beinahe zwangsvereinnahmend, so dass an die Inklusions-Karrieren in den Schulen die Maßnahme-Karrieren gemäß Sozialgesetzbuch anschließen.
Sicher, unser Kapitalismus surrte als Betriebssystem der Gesellschaft nie so effizient wie gegenwärtig, befördert von hervorragenden Ausbeutungsbedingungen dank globalisierter Arbeitsteilung, aber offenbar sichern die so erzielten Sonderprofite über Steuern nicht nur eine bereits seit langem existierende sozialistische Sonderzone, den Öffentlichen Dienst nämlich, sondern darüber hinaus die umfängliche Möglichkeit, nach zig-Tausenden zählende Flüchtlinge ebenso zu alimentieren wie all jene Bürger, die nicht nur „schwierig in Jobs zu bringen“ sind, sondern für die es in der vierten Phase der industriellen Revolution kaum mehr Jobs gibt, Menschen also, die weniger für die Produktion, immerhin jedoch für die Konsumtion zu gebrauchen sind: Sozialfürsorge als Konjunkturprogramm.
Die Exklusionsforschung dürfte eine der interessantesten Disziplinen der Soziologie sein und nebenher herausgefunden haben, dass es dem Prekariat eher darum geht, als „Profi-Shopper“ ruhiggestellt gesichert denn als urteilskräftiger Demokrat und „Europäer“ aktiviert zu werden.
Land und Volkswirtschaft funktionieren bestens. Größtenteils ohne jede Korruption, grundsätzlich rechtsstaatlich, allgemein sogar ethisch vertretbar. Welche Periode deutscher Geschichte hielte da denn bitte mit? – Gut, die Sozialdemokraten reden von maroden Brücken und ruinierten Schulen und fordern mehr Breitband. „Marode“, das kennen wir in Neufünfland aber ganz anders. Es läuft doch. Beinahe zu perfekt, von Exportweltmeisterschaft bis Mülltrennung.
Weil der linke Leser jetzt bereits raunen dürfte, endlich zu der Frage, wem es überhaupt schlecht geht. Zu allererst dem grundlegendsten Bereich alles Lebendigen überhaupt, der Natur. Weil hierzulande alles in die Reproduktions- und Wertschöpfungsketten einbezogen ist, findet sich das Natürliche geradezu vergewaltigt und ausgeplündert, von Flächenverbrauch und Flurbereinigung zugunsten „nachhaltiger Energie“, über die Monokulturen der chemisierten Großflächenwirtschaft bis zum Tourismus in den letzten Refugien. Wir bezahlen das mit dem höchsten Preis, dem Verlust der uns selbst erhaltenden Artenvielfalt. Obwohl allerlei Grenzwerte äußerlich Verschmutzungen vermeiden, stirbt die ausgeputzte Natur an innerer Auszehrung. Und dabei ist noch nicht mal von der Klimaveränderung die Rede, sondern von einer dank technischer Möglichkeiten so nie dagewesenen Ausschlachtung, die die Biosphäre im Anthropozän vernichten wird, jedenfalls in ihrer äonenalten gesunden Gleichgewichtsform.
Will man deshalb die Grünen wählen? Sie sind „naturgemäß“ ebenso Teil der maßlosen Konsum- und Glücksvorstellungen unserer Gegenwart wie alle anderen Parteien.
Vergleichsweise schlecht geht es ferner den Billiglöhnern, den „Ein-Euro-Jobbern“, Aufstockern, Alleinerziehenden und Hartz-IV-Empfängern, also jenen Gruppen, die ihre Existenzweise einer im Sinne des neoliberalen Kapitals handelnden Sozialdemokratie verdanken, die es angezeigt fand, zwei Dritteln der Gesellschaft ein Wohlleben auf Kosten der „Abgehängten“ und des Ressourcenverschleißes zu ermöglichen. Als dieses Programm in Nachahmung von Tony Blairs fataler „New Labour“ Ende der Neunziger gestartet wurde, träumte die Linke noch mal kurz vom Klassenkampf, mindestens von lebhafter Empörung, aber dazu kam es kaum mal ansatzweise. Solange nur genügend ernährungsphysiologisch zwar fragwürdige, aber fette, süße und geschmacksverstärkte Lebensmittel der ohnehin überproduzierenden industriellen Landwirtschaft zur Verfügung stehen, solange man sich dank Globalisierung mit passabler Kleidung aus Fernost eindecken kann und solange die Unterhaltung via Screens über ein stabiles WLAN mit Flatrate funktioniert, revoltiert niemand, sondern die materiell wie geistig Armen stoffwechseln befriedigt und befriedet so vor sich hin. Brot und Spiele. Wichtig vor allem: „Bedarfe“ rechtzeitig anzeigen und Termine einhalten, damit es im Vollzug von Verwaltungsakten juristisch verbindlich weitergeht. Bis man dann letztlich noch in die Wertschöpfungskette des medizinisch-pharmakologischen Komplexes eintritt. Aus dem Super-Markt heraus in die Dialyse-Zentren hinein. Und Pflegedienst als veritables Arbeitsbeschaffungsprogramm. – Nur weil es von der grundlegenden Versorgung her allen immer besser geht, wird ja mal wieder von totaler Gerechtigkeit und gefährlicher Gleichheit geträumt. Und Vollbeschäftigung verkündigt. Von der CDU!
Also unter der Regie von „Mutti“. Das Wort allein ist schon beredt. Haben wir je einen Politiker-Typus erlebt, der auf diese Weise unprätentiös auftrat? Frei war von allen Eitelkeiten, die uns anderen so eigen sind? Wenig Macchiavelli, kein Bismarck gegenüber Nachbarstaaten (und leider auch nicht gegenüber Russland), schon gar nicht Carl Schmitt, nichts von der feisten Selbstgefälligkeit Kohls oder Schröders. Mutti eben. Mutti Merkel. Spätestens seit dem Sommer 2015, als alle, wirklich alle kommen durften, um sich dem an seiner Wohlständigkeit etwas übergewichtigen Deutschland im Sinne eines linksgrün verordneten und vorzugsweise religiös verstehenden Multikulturalismus anzuschließen. Übrigens so, als wäre es das Wesen der Religionen, tolerant zu sein. Nur weil Lessing das weiland ebenso glaubte wie heute die EKD.
AfD? Längst ganz in Ruhe ausgebremst. Gegenüber Merkel chancenlos. Bei aller Berechtigung im politischen Ansatz, zunächst der Kritik an der EU, später am Einwanderungschaos 2015 und am neoideologischen Islam mit seiner immensen religiös befeuerten Aggressivität, demontiert sich diese Truppe durch kleinliches Hickhack von Stellenjägern und in den unappetitlichen Auftritten eingebildeter Möchtegern-Volkstribunen selbst. Nach furiosem Aufbruch wurde aus der „Alternative“ eine Partei des spießigen Nörglers, der zwar nicht so ganz rassistischer Beißer, aber doch ein bisschen Blockwart sein möchte. Nein, ein Frust-Verein, in dem sich die wenigen Intellektuellen selbst nicht mehr wohl fühlen dürften, stellt für bürgerliche Wähler keinen Identifikationsraum dar.
Während auf der anderen Seite des Spektrums die Linke zu einer Sparte meist berenteter Alt-Marxisten verzwergte, in der die Urbestände eines „historischen Materialismus“ mit seiner idealistischen Erblast unter der Führung einer zweifellos klugen Dame im reloadeten Rosa-Luxemburg-Chic noch revolutionsfolkloristisch resteverwaltet werden.
Dann doch eher Mutti. Da weiß man, was man hat, wenn sie – nochmals: völlig unprätentiös – feststellt: Sie kennen mich.
Da hat sie recht!
Und: Wir schaffen das.
Die Wirtschaft im Euroraum wächst bereits das sechzehnte Quartal …
Klar, die große Krise ist nur verschoben. Aber innerhalb der Finanzblase auf eine sehr gemütlich anmutende Weise.
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