von Ulrich Kaufmann
„Keine Zukunft hat, wer ohne Vergangenheit kommt.“
(Harald Gerlach)
Als Gerlachs erstes Prosawerk in der „Edition Neue Texte“ erschien, war der 1940 geborene Autor bereits 36 Jahre alt. Der Band „Das Graupenhaus“, bestehend aus fünf nicht nummerierten Kapiteln, weist keine Genrebezeichnung auf. Um ein Episodenbuch ohne Fabel handelt es sich, um ein „Mosaik“, meint Wulf Kirsten, der den Lyriker und Erzähler zu Beginn nach Kräften unterstützt hat. Für Bücher seines 2001 verstorbenen späteren Freundes schrieb Kirsten viermal ein Nachwort und 1972 für das „Poesiealbum 56“ einen kleinen Prolog.
Gerlachs sprachgewaltiges Buch, verziert durch eine wunderbare, das Graupenhaus andeutende Graphik von Alfred T. Mörstedt, ist keine leichte Kost und war zu keiner Zeit ein populärer Text. Daran konnten weder ein Nachdruck als Taschenbuch (in der bb-Reihe des Aufbau-Verlages), noch ein Fernsehfilm von 1982 (in dem immerhin Käthe Reichel, Erwin Geschonneck und Rolf Ludwig agierten) sowie eine Nachwende-Edition von 1990 etwas ändern. Johannes Bobrowski, eine Leitfigur vieler DDR-Autoren, hatte, sagt Kirsten, auch Harald Gerlach „die Zunge gelöst“. Aber schon mit dem „Graupenhaus“ findet er seinen eigenen Ton:
Der Autor wechselt oft den Schauplatz, verortet seine Geschichte historisch und geographisch, legt seinen Figuren immer wieder geistreiche, mitunter deftige Sprichwörter in den Mund, schildert Angstträume. Mitunter schafft Gerlach sprachliche Kontraste, indem er staatsoffizielle (freilich fiktive) Briefe in den Text einfügt. Grundiert ist sein Prosatext durch das „Alte Testament“ und durch Anlehnungen an deutsche Dichter wie Schiller, der in seiner Region weilte, Goethe, Büchner und andere.
Die erzählte Zeit umfasst 16 Jahre, den Zeitraum vom Herbst 1945 bis zum Herbst 1961, die Folgen des Mauerbaus einschließend. Gerlach schildert die Geschichte eines Thüringer Kinderheims vom Beginn bis zu seiner Schließung. Eingangs erfährt der Leser von der Ankunft des ersten Heimleiters Ampf auf dem Schloss, das man heute in Römhild wieder die „Glücksburg“ nennt. Schon bald folgen Ampf die ersten Mädchen und Jungen, elternlose, traumatisierte Jugendliche, die oft eine Fluchtgeschichte hinter sich hatten und nicht in eine Glücksburg, sondern in ein Graupenhaus gelangen. Die Einwohner der Kleinstadt nennen das ungeliebte Kinderheim „Zuchthaus“. Genauestens beschreibt Gerlach die Differenzen zwischen den geflüchteten, hungernden, Graupensuppe löffelnden Jugendlichen und den argwöhnischen Einheimischen, denen es besser geht, da sie Lebensmittel und Schlachtvieh vor den Behörden verstecken. Dies spürt vor allen Ampf, der im zweiten Teil des Buches nurmehr für das Essen seiner Heimkinder zuständig ist. Seine „Blicke streicheln hungernde Kinder, in seinen Träumen heilt er die Wunden der Welt.“ Ampf, der Gründer des Jugendwerkhofs, trägt Züge von Gerlachs Vater, der im Krieg gegen die Sowjetunion verwundet wurde, der SS angehörte und den man in der DDR als „Verdienten Lehrer des Volkes“ ehrte.
Harald Gerlach installiert einen Ich- (Wir-) Erzähler, der dicht am Erzählgeschehen ist, ohne als Figur Konturen zu erhalten. Dies ist die adäquate literarische Form, da sie der Biografie des Schriftstellers folgt. Harald Schnieber – so sein Geburtsname – musste mit seinen Eltern 1945 aus dem schlesischen Bunzlau fliehen und lebte fortan in jenem Schloss des Grabfeldes, später dort gar in einem eigenen Turmzimmer. Harald war keiner der Zöglinge, teilte aber mit ihnen über Jahre den Alltag. Diese Perspektive des Erzählens ermöglichte es Gerlach, Nähe und Distanz zum Geschehen zu schaffen.
Bereits im „Graupenhaus“ greift Gerlach „heiße Eisen“ an: Die Härte von Flucht und Vertreibung, insbesondere für Kinder, war kein von der Obrigkeit „gewünschter“ Stoff. Und ein Parteifunktionär wie Nützer, der Ampf vor die Nase gesetzt wird, damit er sich um die Erziehung kümmern kann, passte ebenso wenig in das offizielle Schema. Menschen „nach seinem Bilde“ wollte Nützer formen. Die Jugendlichen, die „edlen Rebellen“ selbst sind es, die ihren Heimleiter durch ein Foto, das Nützer als KZ-Aufseher zeigt, zu Fall bringen. Ertl, einer der Heiminsassen, sagt zu seinem Lehrer Langner: „Abgelöst habt ihr ihn wegen seiner Vergangenheit, aber für uns war seine Gegenwart schlimmer.“ Selbstredend wünschten sich die Parteifunktionäre von der DDR-Literatur ein anderes Bild von ihren Kadern.
Gerlachs Prosa-Erstling hat seine besondere Qualität dadurch, dass der Autor durchgehend das Rotwelsch, den Soziolekt der Außenseiter, böse gesprochen die Gaunersprache, nutzt. Einige dieser Wörter werden im Anhang des Buches erklärt. „Über das Rotwelsch wurde für mich das ‚Graupenhaus‘ erzählbar. Der soziale Gestus dieser Sprache hat für mich den Reiz ausgemacht, mit ihr in der Erzählung umzugehen. Ich muß das Rotwelsch nicht überanstrengt herbeizitieren. Rotwelsch lag mit dem Hildburghausener Protokoll (welches im 18. Jahrhundert Gauner- und Diebeslisten verzeichnete – U.K.) in meiner Landschaft.“
Als „Graupenhaus Gerlach“ (Wulf Kirsten) 1976 seine Erzählung in seinem Heimatstädtchen Römhild vorstellen wollte, kam es zu Tumulten. Der „Nestbeschmutzer“ schwitzte (nach eigener Schilderung) „Blut und Wasser“. Einige der Besucher sollen gar ein Messer in der Tasche gehabt haben. Zu deutlich hatte der Autor den Römhildern, von denen einige 1945 alles aus dem Schloss holten, was nicht niet- und nagelfest war, den Spiegel vorgehalten.
In Römhild liegt der nicht arrivierte Dichter Harald Gerlach begraben. Sein Gedenkstein wird von Weinblättern umrankt…
Harald Gerlach: Das Graupenhaus. Edition Neue Texte, Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1976, 147 Seiten; derzeit nur antiquarisch erhältlich.
Schlagwörter: DDR-Literatur, Harald Gerlach, Heimkinder, Römhild, Ulrich Kaufmann