20. Jahrgang | Nummer 11 | 22. Mai 2017

Wie bringt man Senta um?

von Wolfgang Brauer

Senta, Sie ahnen es, ist die unglückliche Kaufmannstochter aus Richard Wagners „Der fliegende Holländer“, die vom seefahrenden Vater aus Geldgier an einen ebenfalls seefahrenden Wiedergänger verhökert wird und sich in diesen verliebt. Eigentlich ist sie in sein Bild verliebt, das wird nicht ganz klar, wir bewegen uns in spätromantischen Gefilden. Dem ist das ganz recht, er will den auf ihm lastenden Fluch endlich loswerden. Irgendwie schütteln den Kapitäns-Zombie am Ende doch Skrupel. Er will Senta nicht ins Unglück stürzen, traut ihr zudem nicht so recht über den Weg und segelt klammheimlich ab. Dafür stürzt diese sich dann in die See. Im selben Moment geht laut Wagners Regieanweisung des Holländers Schiff unter: „In weiter Ferne entsteigen dem Wasser der Holländer und Senta, beide in verklärter Gestalt; er hält sie umschlungen.“ Vorhang.
Nun ist das Spiel mit den Elementen auf der Opernbühne – ganz im Gegensatz zum Orchestergraben, gerade die Bläser laufen dann meist zu Hochform auf – immer eine arge Herausforderung für Regie und Bühnenbild. So soll in diesem Sommer Bizets „Carmen“ auf einer berühmten Seebühne gegeben werden. Deren Handlung spielt allerdings in einer recht trockenen Gegend. Und noch hat der Bodensee Wasser… Aber „Carmen“ gehört zu den „ABC-Waffen“ des Opernrepertoires, wie Kirsten Harms in ihrer Zeit als Intendantin der Deutschen Oper Berlin einmal aus dem Nähkästchen einnahmebewusster Spielplangestaltung plauderte. Die beiden anderen Massenvernichtungswaffen jeglichen Publikumsverstandes heißen „Butterfly“ und „Aida“. Auch bei „Aida“ spielen die Elemente in Gestalt des Nils eine gewisse Rolle. 2008 ließ Christopher Alden die Titelheldin in der Deutschen Oper der Intendantin Harms in einem leicht überdimensionierten Zimmerspringbrunnen am Ende der Oper ertränken. Das Publikum war etwas irritiert, laut Libretto hat die Dame mit ihrem Liebsten lebendig eingemauert zu werden, aber es bekam vorher seinen Triumphmarsch. Beifall.
Ansonsten hat es das Haus – es wird inzwischen vom klug-behutsam agierenden Dietmar Schwarz geleitet – mit Seestücken. Zugegeben, im Vergleich zu den beiden anderen „großen“ Opernhäusern Berlins – der mutigen Neuköllner Oper hingegen reichten für Wagner ein Klavier und ein paar Barhocker – verfügt es über die passende Bühne dafür. Vielleicht räumlicher Enge geschuldet ließ Philipp Stölzl 2013 in einer Staatsoperninszenierung am Schiller-Theater den „Holländer“-Chor aus einem Bilderrahmen (Seegemälde natürlich) auf die Hauptbühne klettern. Die Berliner Staatsoper kaufte diese Inszenierung seinerzeit der Oper Basel ab. Da lief die bereits 2009, und der Intendant des Schweizer Hauses hieß Dietmar Schwarz… Aber die Berliner Zweitgüsse sind ein anderes Thema. Schwarz jedenfalls ließ den „Holländer“ jetzt für die Deutsche Oper Berlin von Christian Spuck neu inszenieren, und er tat gut daran. Mir erging es im Haus an der Bismarckstraße wie Heinrich Heine einst mit dieser alten Geschichte: Sie verführt einen in welcher Interpretation auch immer zu heftigstem Spott – und ich war hin und her gerissen. „Brava!“ und „bravi!“ kommen mir selten über die Zunge. Am 7. Mai 2017 schon. Da war die Premiere.
Regisseur Spuck hat aber auch seine Probleme mit dem nassen Element. Während der Ouvertüre hockt ein jüngerer Mensch – später stellt sich heraus, es ist der Jäger Erik, der Beinahe-Bräutigam der Senta – am Rande der linken Seitenbühne, und im Hintergrund regnet es. Das Plitsch der Wassertropfen übertönt streckenweise die wenigen piano-Stellen des Orchesterstückes. Am Ende hat Erik die Nase voll und macht das Spielzeugschiffchen, das einigermaßen verloren vor ihm steht, kaputt. Er scheint nichts von Seeleuten und Seefahrt zu halten. Das Spiel kann beginnen, und auch der Regen hört wundersamerweise auf.
Überhaupt dieser Erik (Thomas Blondelle): Üblicherweise als Depp vom Dienst angelegt, wird er bei Spuck zum großen Widerpart des Holländers. Blondelle fällt das auch nicht allzu schwer, obwohl ihm die pathetischen Partien nicht ganz so zu liegen scheinen. Seine darstellerische (und sängerische!) Größe hat viel mit der Schwäche seines Widerparts zu tun. Samuel Youn preßt seinen Text mit bedeutungsvoll geschwollener Brust kaum verständlich aus sich heraus. Selbst für Wagner kommt die Melodramatik hier ein wenig zu dick daher… Weshalb Senta nun ausgerechnet diesem Manne verfällt, ist zumindest vom Sängerischen her kaum vermittelbar. Allerdings, ich sagte es schon, ist sie eigentlich einem Bilde verfallen… Ingela Brimberg, die schwedische Sopranistin ist erstmals auf einer Berliner Bühne zu sehen und zu hören, überzeugt durch strahlenden Gesang. Mit der großen „Holländer“-Ballade der Ersten Szene des Zweiten Aufzuges hält sie den Saal förmlich in Bann. Die Erik-versessene Regie – mit aller Macht versucht Christian Spuck dem Erik eine Lesart aufzudrücken, die weder Partitur noch Libretto so richtig hergeben – kann mit der Senta nur wenig anfangen. Das gibt Frau Brimberg die Möglichkeit, ihre Rolle als die einer um ihre große Liebe ringenden jungen Frau anzulegen. Die Dramaturgie wünschte wohl mehr Erlösungs- (also Todes-)Sehnsucht. Unter diesem Sammelsurium verzwickter Widersprüche leidet die Inszenierung. Zum Schluss muss sich die bedauernswerte Senta auch noch ausgerechnet in den Armen Eriks dessen Messer zwischen die Rippen jagen. Nix mit Sprung in die wilde See… Oder wurde der verzweifelte Erik gar zum Mörder? Schade, so wird eine große Schlussszene in die Belanglosigkeit getrieben.
Aber die Chöre, die musikalischen Säulen dieser Oper… einfach großartig. Dass in dieser „Kerle“-Oper die Herren in Gestalt der Seemannschöre ein noch größeres Gewicht haben als die Jäger im „Freischütz“ (Jäger?) – geschenkt. Sie haben unter Leitung von Raymond Hughes die nötige Bühnenpräsenz und patschen auch tapfer im Dritten Aufzug im inzwischen knöcheltiefen Regenwasser herum. Aber in der Spuck-Inszenierung sind es die Damen, die in der Spinnstube für eine zauberhafte Überraschung sorgen. Christian Spuck, eigentlich vom Ballett kommend, hat hier tatsächlich auf meisterliche Weise eine Opernszene choreografiert. Bravissimo! Hingehen!
Die Dramaturgie des Hauses ist übrigens zu hübscher Selbstironie fähig. Das ist an deutschen Theatern, noch dazu an Opernbühnen, selten. Sie nahm Heinrich Heines Holländer-Kapitel aus den „Memoiren des Herrn von Schnabelewopski“ in das Programmheft auf. Mir hat das sehr gefallen.

Wieder am 4.6. und 10.6., mit veränderter Besetzung am 8.9., 22.9., 27.10. und 18.11.