von Gabriele Muthesius
Nun also – verkündet am 14. März – ein dreimonatiges Moratorium für die Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke und – nachgeschoben am 15. März – ein (mit einer Ausnahme) vorläufiges Abschalten von Alt-Reaktoren. Umdenken in Sachen Kernenergie – solches hat die Berliner Zeitung der Bundeskanzlerin dieser Tage auf einer Titelseite attestiert – sähe anders aus. Das Zustandekommen des Moratoriums und die verschwiemelte politische Rhetorik drumherum weisen es eher als in die Rubrik „tagespolitisches Taktieren mit Schielen auf die nächsten Wahltermine“ gehörig aus.
Die aktuelle Tragödie Japans ist erst einige Tage alt. Die direkten Schäden des fernöstlichen Zusammenspiels von Erdbeben, Tsunami und kollabierenden Kernreaktoren sind bisher nur in – schrecklichen – Ansätzen deutlich geworden, die mittel- und langfristigen Folgen des Desasters für Japan und seine Menschen, für die Umwelt und für die Globalwirtschaft lassen sich noch nicht ermessen. Aber der damit verbundene kollaterale politische Skandal in Deutschland, der lässt sich bereits nach dieser kurzen Zeitspanne klar benennen: Er besteht darin, dass sich die Kanzlerin und ihre Entourage, von den Energiekonzernen und ihrer Lobby wollen wir gar nicht reden, offensichtlich einmal mehr weigern (oder, wenn auf mildernde Umstände plädiert werden soll, sich schlicht als unfähig erweisen), die verallgemeinbare Lektion der Katastrophe handlungsleitend zur Kenntnis zu nehmen. Mehr noch: Die schwarz-gelbe Koalition nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Hebel, um diese Lektion keinesfalls ins öffentliche Bewusstsein dringen zu lassen. Daher die politischen Nebelkerzen um das Moratorium und um die Frage, wie weiter, sowie der kleinteilige, vielfach bloß verbale Aktionismus im schwarz-gelben Lager.
Wer will, kann aufatmen: Gott sei Dank gibt es in Mitteleuropa (fast) keine Erdbeben und keine Tsunamis und schon gar nicht gleichzeitig. Hiesige Kernkraftwerke sind also sicher – vor schweren Erdbeben und Tsunamis! Aber die japanische Katastrophe lehrt ja ganz etwas anderes: Es können Ereignisse eintreten, die schon für sich genommen die Sicherheitssysteme von AKWs bis in Grenzbereiche hinein oder darüber hinaus fordern. Und mögen solche Ereignisse – ebenfalls für sich genommen – durchaus selten sein, so ist eben doch nicht auszuschließen, dass sie gleichzeitig auftreten können und in dieser Kombination dann noch zusätzliche Effekte mit sich bringen, die die Dimension der Katastrophe potenzieren. Genau das ist in Japan passiert. Und Vergleichbares kann überall geschehen, wo Kernkraftwerke betrieben werden, denn die Gefährdungsfaktoren sind viel näher liegend als Erdbeben und Springfluten mit nachfolgendem Energieausfall oder andere Exoten (Flugzeugabsturz, Terrorismus). Simples technisches und menschliches Versagen reicht aus. Das haben Harrisburg und Tschernobyl bereits vor Jahrzehnten vor Augen geführt. Auch vor die Augen seinerzeit maßgeblicher Politiker und Manager, die hernach im Zusammenspiel mit willfährigen Wissenschaftlern und Medien alles taten, dass diese Lektionen zu keinem grundlegenden Kurswechsel führten.
Muss angesichts der japanischen Katastrophe daher nicht ab sofort jeder Betreiber von Atomkraftwerken, ja überhaupt jeder Politiker, Lobbyist, Wissenschaftler, Medienvertreter, der einer weiteren Nutzung der Kernenergie das Wort redet und der Öffentlichkeit immer noch oder schon wieder weiß zu machen versucht, dass in puncto Sicherheit für jede wahrscheinliche Ursache eines möglichen GAUs Vorsorge getroffen sei, mit der Forderung konfrontiert werden nachzuweisen, dass auch für das scheinbar Unwahrscheinliche Vorsorge getroffen worden ist? Und müsste diese Forderung nicht zu allererst von der Bundeskanzlerin erhoben werden, die sich per Amtseid dazu verpflichtet hat, ihre „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes“ zu widmen?
Doch halt: Diese Fragen sind zwar mehr als berechtigt, aber zugleich Einfallstore für Advocati Diaboli, denn sie bieten Möglichkeiten, am Kern der Sache vorbei- oder diesen wegzuargumentieren. So geschehen nach Harrisburg, nach Tschernobyl und nach jedem der inzwischen an die 4.000 sicherheitsrelevanten Vorfälle in deutschen Kernkraftwerken, soweit diese überhaupt ins Wahrnehmungsfeld der Öffentlichkeit gerieten.
Also auf den Punkt gebracht: Mit Japan hat sich jede weitere Diskussion über die Sicherheit von Kernkraftwerken erledigt.
Wer diese Diskussion, ob nun als promovierte Physikerin oder als wer auch immer, unter Machbarkeitsgesichtspunkten fortführt, der vergrößert de facto die Wahrscheinlichkeit, dass mit Harrisburg, Tschernobyl und nun Japan vergleichbare Katastrophen auch hierzulande eintreten könnten.
Wer volljähriger Bürger der Bundesrepublik ist und dies verstanden hat, kann auf der Straße und an den Urnen zumindest darüber abstimmen, ob er von derartigen Politikern fürderhin regiert werden will. Die nächste Möglichkeit besteht am 27. März in Baden-Württemberg.
Grundsätzliches P.S.: Die marktwirtschaftliche und damit primär gewinnorientierte Organisation unserer Energieversorgung hat dazu geführt, dass sich die Gesamtgesellschaft in dieser Frage der Daseinsvorsorge in permanenter Geiselhaft privatwirtschaftlicher Interessen befindet. Gewinn geht vor Gemeinwohl. Das zeigt sich an den Strompreisen ebenso wie am langjährigen Widerstand konventioneller Stromerzeuger gegen das Aufkommen erneuerbarer Energien und nicht zuletzt am bisher erfolgreichen Festhalten an überalterten, längst amortisierten Atommeilern. Das ist kein Fehler im System, dem durch immer neues Justieren an immer denselben Stellschauben abzuhelfen wäre. Hier ist vielmehr das System der Fehler, und wenn das nicht grundlegend geändert, wenn dieser Bereich der Daseinsvorsorge nicht dem Wirkungskreis marktwirtschaftlicher Kräfte und Spielregeln entzogen wird, dann bleibt das nächste Desaster auch weiterhin nur eine Frage der Zeit. Walther Benjamin fand für solche Abläufe die treffende Zustandsbeschreibung: „Dass es ’so weiter geht‘, ist die Katastrophe.“
Schlagwörter: AKW, Daseinsvorsorge, Gabriele Muthesius, GAU, Japan, Kernenergie, Marktwirtschaft