20. Jahrgang | Nummer 10 | 8. Mai 2017

Lebensernst statt Hoffnung

von Heino Bosselmann

Anstrengend, diese Existenz im Als-ob und Trotzdem. Das meint nicht nur die immer wieder zu reproduzierende Kraft, um „sinnerfüllt“ weiterzuleben auf einem Planeten, der durch uns verschlissen wird, zunehmend fiebert und bereits dahinsiecht, sondern ebenso den Mut für die vermutlich vergebliche Illusion, unsere Geschichte könnte uns, als Menschheitsbiographie, vernünftiger werden lassen. Überhaupt bedarf es täglich einer enormen Resilienz gegenüber Dummheit, Borniertheit, Kleingeisterei und dazu noch der Größe, sich beständig zu prüfen, ob man nicht zuallererst selbst ein dummer und bornierter Kleingeist ist. Letztlich: Unser Existenzial ist die Sorge. Diesen Gedanken darf man sich bei Heidegger durchaus noch ausleihen. Er stimmt.
Als einzige Wesen haben wir den Tod immer im Prospekt, sowohl den eigenen kleinen als auch jenen großen der Gattung; wir standen schon immer vorm Ende, aber erst seit dem 20. Jahrhundert verfügen wir über das technische Besteck, uns dieses Weltende tatsächlich bereiten zu können. Und die Macht dazu wissen wir allzu oft bei jenen, denen man Charakter schon wegen ihres würdelosen Bedürfnisses nach Macht weitgehend absprechen darf; aber wir selbst, die Machtlosen, die Nachdenklicheren und Melancholiker, meiden die Macht und überlassen sie abwinkend denen, die danach schreien.
Zudem hat die bürgerliche Gesellschaft den Egoismus seit Adam Smith offiziell zur Tugend erhoben. So, wie die Gier als legitim gilt und das Maßhalten als Wachstumsbremse, mithin als tendenziell staats- und gemeinschaftsgefährdende Handlung, erscheint die Verwurstung des Planeten als unabdingbar: Macht euch die Erde untertan! So begannen die Pilgrim-Fathers Amerika zu unterwerfen und zu verhunzen, und so geschieht es dem gesamten Planeten. Unsre Natur liegt darin, alles zu verarbeiten und zu verstoffwechseln. Vermeintlich wertschöpfend. Letztlich aber zu unser aller Verderbnis. Individuell innerhalb des medizinisch-pharmakologischen Komplexes, global in der Klima- und Ökokatastrophe. So wie der Weg in den Supermarkt im Dialyse-Zentrum endet, geht die Menschheit den ihren Richtung Selbstvergiftung. – Sicher, es wurde vieles besser, insbesondere ja technisch und mit Blick auf den Komfort. Nur, um welchen Preis? Und was uns vermeintlich entlastete, ließ uns genau deswegen anfälliger werden.
Und das Licht der Aufklärung, beschworen von ein paar Philosophen in Europa und Amerika, die das Bürgertum zur Menschheitsbefreiung aufbrechen sahen? In ihrem kalten Licht stand die Guillotine, und es lag ebenso auf den Lagern des GuLag wie auf den Gleisen vor Auschwitz. Für die zunehmend skeptischeren Aufklärer haben Adorno und Horkheimer das 1944 zu beschreiben versucht; die einfacheren Leute waren im 19. und 20. Jahrhundert in Anbetracht ihrer engeren Lebensumstände mit Lebensrettung beschäftigt oder hatten sich mit neuen Welt-Anschauungen berauscht. Den „neuen Menschen“ verhießen quasireligiös die Linke wie die Rechte, diese finster und mythisch, jene licht und moralisch.
Es fällt schwer, allein mit den Tatsachen des unmittelbaren Diesseits zu leben, es sei denn, eine Lebensschulung hat uns weitgehend desillusioniert zu einer stoischen Einstellung qualifiziert, aus der heraus schon die Freude auf einen wirklich guten Kaffee den Tag freudvoll beginnen lässt. Was bleibt darüber hinaus? Letztlich epikureische Traurigkeit. Und der Versuch, sich trotz aller sich reproduzierenden Verzweiflung einer Herzensbildung zu befleißigen, die das eigene Leid auch im Mitmenschen erkennt, um ihm helfen zu können oder ihn mindestens zu verschonen. – Weil das aus sich selbst heraus seit dem Abschied vom Primatenhügel schwierig ist, sucht der Mensch offenbar Offenbarungen, die ihm Räume über sich selbst hinaus und vor allem jenseits seiner Kleinlichkeit eröffnen: Religion, Esoterik Spiritualität, Mystik, mindestens aber deren Säkularvarianten Metaphysik und Transzendenz. Oder die die Massen erotisierenden Platzhalter des Religiösen – die Ideologien, welche aus dem letzten Jahrhundert ein menschheitliches Drama machten. Schon interessant, wie namentlich der deutsche Idealismus des romantischen Zeitalters das Christentum philosophisch „upgradet“ und es damit nolens volens ideologietauglich aufrüstet.
Es gehört schon Mumm dazu, sich den religiösen und sonstigen Glaubensbekenntnissen kritisch zu verweigern, wo doch außerhalb davon wenig zu glauben ist. Wer nicht zur Herde des Herrn gehört, sich nicht im Kirchenschiff zusammentreiben lässt, um beim guten Hirten Schutz und Trost zu suchen, wer nicht einem der vielen Führer sehnsüchtig folgt, sondern stattdessen skeptisch im diesseitigen Denken und Erkennen wacker ausharrt, weil er sich auf Jenseitiges oder Endgültiges und die damit zusammenhängenden Verheißungen eines neuen Himmelns und einer neuen Erde nicht verlassen mag, der unternimmt nach wie vor ein zarathustrisches Wagnis, bei dem er täglich vom schmalen Seil in den Abgrund stürzen kann. Ecce homo! Seht diesen Menschen! Der das Leid der Welt eben nicht durch ein Mysterium wie auf Golgatha erlöst sehen kann, sondern an deren Erlösung immer wieder neu für seine Frist und Aufgabe zu arbeiten bereit ist: Albert Camus’ Dr. Rieux, der in Oran bleibt, obwohl er gegen die Pest nichts ausrichten kann und weiß, dass er solcherart im Absurden steht. Existentialismus. Im Wortsinn. Auf seinem Posten bleiben, auch wenn der längst verloren ist. Dem Linken fällt diese Einsicht am schwersten. Er ist – in Abwandlung von Molières Komödientitel – der eingebildete Glückliche und trägt den Idealismus auf Prothesen weiter.
Pessimistischer Lebensernst dürfte menschlicher sein als der Utopismus samt „Prinzip Hoffnung“, das vor der nächsten Grausamkeit oder auch nur vor der nächsten Enttäuschung einknickt. Wo die Linke erfolgreich war, agierte sie konservativ; und wo sie je Staat machte, war sie ganz bei Carl Schmitt.
Letztlich können wir nicht anders, als uns auf uns selbst zu verlassen, zurückgeworfen auf das, was vernünftigerweise unsere Pflicht ist und die Verantwortung für das eigene wie das fremde Leben, also selbstverständlich ebenso für das der Pflanzen und Tiere, die wir erfolgreich auszurotten begannen. Es bedarf zur Einsicht in diese Pflicht eben keines Glaubensbekenntnisses, ebenso wenig des erfolgreichen Studiums der Philosophie, sondern lediglich des common sense und vor allem eines couragierten Handelns, das unsere einzige Chance ist. Was befreit? Wenn man viel aufzugeben bereit ist. Schopenhauer, der ungeliebte deutsche Denker, dachte die Aufklärung in seinem Sinne zu Ende. Mut zu einem Pessimismus, der Hoffnung macht.
Und wenn die anderen nicht mitziehen? Dann suchen wir uns die Nische, die bleibt, und leben dort nach unserem Maß. Das hält die Kollateralschäden in Grenzen und dürfte wenigstens seelisch gesund sein. Und dafür braucht man weniger, als den meisten nötig erscheint.