von Mario Keßler
Der Schriftsteller und Journalist Boris Souvarine (1895–1984), in Kiew geboren, doch in Frankreich aufgewachsen, ist heute leider fast vergessen. Seine erstmals 1935 publizierte Stalin-Biographie wollte er ausdrücklich nicht als Beitrag zum Antikommunismus, sondern als Aufklärung über die Gefährlichkeit des sowjetischen Diktators verstanden wissen, den im Westen damals noch viele unterschätzten. Doch sogar der sonst so fair urteilende Isaac Deutscher meinte, Souvarine würde bestenfalls durch Trotzkis Kritik in Erinnerung bleiben, wie der Bernstein das Insekt umschließe und konserviere.
Eine neue Publikation hilft, manches schiefe Urteil über Souvarine zu korrigieren. Sie ist bisher nur als E-Book zugänglich. Doch sogar diese von André Liebich und Svetlana Yakimovich edierte Bild-Text-Dokumentation zwängt in ihrem Titel „From Communism to Anti-Communism“ Souvarines Beweggründe in die Frontstellungen des Kalten Krieges, dem er sich wohl nicht verpflichtet fühlte. Vielmehr gehörte er nach seiner Rückkehr aus dem USA-Exil nach 1945 zu einer Gruppe antistalinistischer Linker in Paris um die Zeitschrift Est et Ouest, die Marxisten und Nichtmarxisten gleichermaßen Raum bot und für die unter anderem auch Branko Lazitch, Francois Fejtö und Lucien Laurat schrieben – jeder dieser Namen verdiente eine Erinnerung und – durchaus kritische – Würdigung.
Das Buch von Liebich und Yakimovich versammelt eine Reihe von Fotos aus Souvarines Nachlass, die in englischer oder französischer Sprache von kompetenten Russland-Forschern (darunter Lars Lih und Alexander Rabinowitch) erläutert und in den Zusammenhang mit Souvarines Biographie, der Geschichte der Sowjetunion sowie der kommunistischen Bewegung gestellt werden. Souvarine war 1920 Mitbegründer der Französischen Kommunistischen Partei und ihr Delegierter bei der Komintern in Moskau, wo er mehrere Jahre lebte. Im Konflikt zwischen Stalin und Trotzki ergriff er für letzteren Partei, wurde aus der KP verstoßen, schloss sich jedoch nicht den Trotzkisten an, sondern versuchte, eine vermittelnde Position zwischen ihnen und den gleichfalls in Gegensatz zu Stalin geratenen Anhängern Bucharins einzunehmen. Wie andere weitsichtige Linke bekämpfte er die selbstmörderische „Sozialfaschismus“-Doktrin der Komintern, die die Sozialdemokratie zum Hauptfeind und zum „linken Flügel des Faschismus“ erklärte. 1930 scharte er eine kleine Gruppe von Anhängern um sich, den „Cercle communiste“, zu dem auch sein Freund Panait Istrati gehörte. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Souvarine parteilos.
Er vermachte einen Teil seines Nachlasses dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, einen anderen Teil mitsamt seiner Bibliothek dem Institut universitaire de hautes études internationales, dem Hochschulinstitut für Internationale Studien in Genf.
Dies lenkt den Blick auf eine Einrichtung, deren Namen vor allem mit Forschungen zum Völkerrecht und zu den internationalen Beziehungen verbunden wird. Die Liste hervorragender Professoren und Gastprofessoren reicht von A wie Raymond Aron bis Z wie Alfred Zimmern. Doch war das Genfer Hochschulinstitut über Jahrzehnte auch eine Pflanzstätte der akademischen Beschäftigung mit dem internationalen Kommunismus jenseits der Klischees des Kalten Krieges.
Dafür steht vor allem der Name des Schweizer Historikers Jacques Freymond (1911–1998), der dieser Einrichtung von 1955 bis 1978 als Direktor vorstand. Neben seiner – auch organisatorischen – Arbeit für und über das Internationale Rote Kreuz machte sich Freymond mit diplomatiegeschichtlichen Werken einen Namen. Vor allem aber schrieb und edierte er eine Reihe von Büchern zur Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, von denen eine Dokumentation zur Ersten Internationale sowie ein bescheiden als „Contributions à l’histoire du Komintern“ (Beiträge zur Geschichte der Komintern) betitelter Band bleibende Akzente der Forschung setzten.
Zu Freymonds wichtigsten Mitarbeitern an diesen Projekten gehörten der Ende 1956 aus Ungarn geflüchtete Miklós Molnár, später Professor an der Universität Genf, sowie der aus Hamburg stammende Bert Andréas, der als kommunistischer Widerstandskämpfer in Holland Hitler die Stirn geboten hatte. Andréas wollte 1950 in die DDR übersiedeln, doch galt dort die „Westemigration“ inzwischen als eine gefährliche Krankheit. Obwohl sich sein Freund Bruno Kaiser vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, dem IML, jahrelang für Andréas einsetzte, gelang diesem die Übersiedlung nicht. Nach einer zeitweiligen Förderung durch den Mailänder Verleger Giangiacomo Feltrinelli fand Andréas dank der Bemühungen Freymonds in Genf eine dauerhafte Anstellung.
Er dankte es durch eine immense editorische und bibliographische Tätigkeit. Über die Grenzen hinweg verschafften er und der Buchhändler Theo Pinkus Bruno Kaiser, gleichfalls ein Bibliomane im liebenswertesten Sinn, Quellen und Dokumente besonders aus der Frühzeit der sozialistischen Bewegung. Aus dem IML wiederum fanden Kopien ihren Weg nach Genf, Zürich und Amsterdam, inoffiziell auch nach Jerusalem, wo Edmund Silberner seine Biographien über Moses Hess und Johann Jacoby schrieb.
Doch reichen diese Genfer Forschertraditionen sogar fast in die ersten Jahre der 1927 als Hochschulinstitut des Völkerbundes gegründeten Einrichtung zurück. Ihre Gründungsdirektoren William Rappard und Paul Mantoux boten ab 1933 vielen aus Deutschland geflüchteten Gelehrten und jüngeren Wissenschaftlern eine Heimstatt. Nicht nur Hans Kelsen und Hans Wehberg, sondern auch die Antimarxisten Wilhelm Röpcke und Ludwig von Mises fochten mit ihren marxistischen Studenten Hans Mayer, Ossip Flechtheim, Ernst Engelberg und Edmund Silberner heiße, doch stets faire Debatten aus. Es war Hans Kelsen, der Flechtheim, Engelberg und Silberner riet, sich der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung forschend zuzuwenden. Auch Hans Mayer und John Herz, die wissenschaftlich andere Wege gingen, betonten in ihren Autobiographien, wie viel sie den Genfer Jahren verdankten, die für sie alle mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges endeten.
Heute setzt die Genfer Hochschule als Graduate Institute of International and Development Studies andere Schwerpunkte, doch hat sie noch immer einen vorzüglichen Ruf als Bildungsstätte für Studenten, die bereits anderswo erste wissenschaftliche Grade und Meriten erworben haben. Zu den bekanntesten Absolventen der Nachkriegsjahrzehnte gehören der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan, der Schweizer Bundespräsident Kurt Furgler, die späteren Nobelpreisträger Mohamed El Baradei und Leonid Hurwicz sowie die Historiker und Holocaust-Überlebenden Saul Friedländer und Arno Mayer. Auch deutsche Absolventen, die heute eine wichtige Rolle in Wissenschaft und Politik spielen, sind zu nennen, so Hans-Gert Pöttering, früherer Präsident des Europäischen Parlaments, oder die Völkerrechtlerin Sabine von Schorlemer, die die erste deutsche UNESCO-Professur in Dresden innehat. Sie alle – und viele andere – haben in Genf nicht nur unschätzbare intellektuelle Anregungen, sondern ganz sicher auch einen Zuwachs an menschlicher Reife erfahren – kostbare Güter gleichermaßen in Wissenschaft und Politik.
André Liebich und Svetlana Yakimovich (Hrsg.): From Communism to Anti-Communism. Photographs from the Boris Souvarine Collection at the Graduate Institute, Geneva. e-Livres de l’Institut / Graduate Institute E-Books, Kindle Edition, Geneva 2016. 160 Seiten, 4,99 Euro.
Schlagwörter: Boris Souvarine, Genf, Institut universitaire de hautes études internationales, Kommunismus, Mario Keßler